Der andere Tod
war.
Als ich wieder an meinem PC saß, kam mir Barbaras Frage nach Anouk und mir erneut in den Sinn. Und dass Barbara damit ja angedeutet hatte, dass es eine Zeit gegeben haben musste, in der bei Anouk und mir
nicht
alles in Ordnung gewesen war.
Anouk kehrte spät zurück und ging gleich zu Bett. Ich machte mir nichts daraus, denn ich war nach wie vor mit dem PC beschäftigt. Schließlich gelang es mir noch in dieser Nacht, den Computer zu überlisten. Und hier waren sie also: meine Dateien aus der Zeit vor dem großen Feuer. Welch einen Schatz hatte ich da endlich gehoben!
Ich fand einen Pfad- und Dateienwald vor, den ich mir nun systematisch vornahm, in alphabetischer Reihenfolge. Viele der Vorgänge kannte ich aus der Firma. Ich hatte mir damals wohl fast alle Projekte auf meinen Privat-PC geladen.
Nach einer Stunde stieß ich auf einen interessanten Unterordner. Er hieß: »Bank CA St. Gallen AG«. Darunter waren Kontoauszüge aus sieben aufeinanderfolgenden Jahren abgelegt. In regelmäßigen Abständen waren Eingänge zu verzeichnen. Immer handelte es sich um größere Summen zwischen 300 000 und 400 000, einmal auch 550 000Schweizer Franken. Und immer war die in Auftrag gebende Stelle eine Firma, die »Scherer Consult« hieß und ihren Sitz offenbar in Liechtenstein hatte.
Vor etwas über zwei Jahren hatten sich auf diesem Konto 4453 230 Schweizer Franken befunden. Die größte Abbuchung war im Jahr 2000 eine Überweisung auf ein anderes Schweizer Konto über 3,5 Millionen Franken, die da hieß: »Haus«. Als Kontoinhaber war Max Friedrich Winther eingetragen, ich selbst.
Den Rest der Nacht verbrachte ich damit, alle in meinem Arbeitszimmer herumstehenden Ordner zu sichten. Ich hatte definitiv keine Schulden bei irgendeiner Bank, soviel war mir nun klar. In meinem Schreibtisch stieß ich erneut auf das Mobiltelefon, von dem ich annahm, dass es meines war. Nach einigen Fehlversuchen gelang es mir, die korrekte PIN einzugeben. Es war mein Geburtsjahr, wie originell!
Ich stellte fest, dass ich 610 Telefonnummern gespeichert hatte, und nahm mir vor, so bald wie möglich alle Einträge durchzusehen. Letztlich wankte ich mit brennenden Augen und schweren Gliedern zu Bett. Ich sank in einen Schlaf, der mir den alttestamentarischen Traum mit seinen üblichen Ängsten und keinerlei Erholung bringen sollte.
Verwirrspiel
Einmal in der Woche telefonierte Anouk mit ihrer Mutter Hella in Karlskrona. Nach jedem Telefonat kam sie zu mir und bestellte »liebe Grüße, auch von Papa«.
Langsam begann ich mich zu fragen, warum keiner der beiden direkt mit mir sprechen wollte. Warum Anouk niemals gekommen war, mir den Hörer hingehalten und gesagt hatte: »Pa will dich sprechen.« Es war ein seltsames
Un-Verhältnis
, das ich zu meinen Schwiegereltern hatte.
Am Morgen nach Barbaras Besuch – es war erst kurz nach halb neun und schon sehr heiß – wollte ich endlich mehr erfahren. Anouk kniete an einem Rosenbeet, mit einer Hacke in der Hand, und stach das Unkraut aus.
Ich kam direkt auf sie zu. »Willst du denn deine Eltern nicht mal wiedersehen?«
Sie blickte zu mir auf, die breite Krempe ihres Strohhuts beschattete ihre Augen und tauchte das Gesicht in ein oranges Licht. Auf ihrer Nase und ihrer Oberlippe perlten winzige Schweißtropfen.
»Ja, natürlich möchte ich sie wiedersehen. Aber ich will dich doch nicht allein hier lassen …
noch
nicht.«
Auf den Gedanken, wir beide könnten ihre Eltern gemeinsam besuchen, kam sie offenbar gar nicht. Ich ließ mir nichts anmerken. Aber hatten denn meine Schwiegereltern nicht den Wunsch, ihren angeheirateten Sohn bald wiederzusehen? Schließlich wäre ich beinahe ums Leben gekommen.
So sagte ich: »Ich rufe sie einfach an und lade sie ein. Barbaras Wiedersehensfeier ist doch ein wunderbarer Anlass für einen Besuch.«
Anouk lächelte etwas gekünstelt: »Ja, eigentlich hast du ja recht … Ich weiß nur nicht, ob sie kommen können. Mama fühlt sich zur Zeit nicht so gut. Ihr Diabetes macht ihr zu schaffen, vor allem bei dieser Hitze.«
»Das werde ich dann ja hören. Aber einladen möchte ich sie auf jeden Fall. Immerhin haben sie ihre Tochter schon lange nicht mehr gesehen – wie lange eigentlich?«
»Drei Jahre.«
Als Anouk meinen Gesichtsausdruck bemerkte, beeilte sie sich hinzuzufügen: »In dem Jahr vor dem Brand wollte ich sie mal besuchen, aber dann ist immer etwas dazwischengekommen.«
Ich nickte. Die Sonne brannte mir auf den
Weitere Kostenlose Bücher