Der andere Tod
fuhr davon mit einem dumpfen Gefühl, das ich nicht einordnen konnte. Ich war Anouk ein Stück näher gekommen, und doch war da so etwas wie ein Vakuum. Es gab nach wie vor einen Bereich, der mir verschlossen blieb.
In einer Viertelstunde hatte ich den Termin bei der Lindauer Polizei. Unterwegs fiel mir wieder das Tagebuch ein. Ein Tagebuch
war und blieb
Privatsache, sagte ich mir. Niemand hatte das Recht, ungebeten in die intimsten Gedanken und Gefühle eines anderen einzudringen. Auch ein Gedächtnisverlust war keine Entschuldigung dafür. Doch quälend deutlich sah ich Anouks Handschrift vor mir – die Buchstaben von eleganter Leichtigkeit, die Worte:
Wie ich ihn hasse
.
Auf dem Polizeipräsidium vertiefte ich mich in die Fotos von dem katastrophalen Brand in meiner Firma. Entgegen meiner Hoffnung regte sich nichts in mir. Kein Funke der Erinnerung, keine plötzlich aufziehende Klarheit beim Anblick der Verwüstung.
Zerstreut blätterte ich noch ein wenig in den Papieren herum, als mir ein paar Worte ins Auge stachen: »Justus Hürli« und »Zeugenaussage«.
Ich richtete mich auf und begann zu lesen. Ein Zeuge,ein gewisser Justus Hürli, hatte sich nach dem Brand gemeldet und ausgesagt, dass es sich bei dem Toten seiner Meinung nach
nicht
um Toni Giaconuzzi handeln könne. Dieser sei nämlich eine Woche vor dem Brand nach Brasilien geflogen.
Verwirrt hielt ich inne. Giaconuzzi, Alkoholiker und Obdachloser, in Südamerika? Wie passte denn das ins Bild?
Zehn Minuten später saß ich einem Polizisten namens Gertl gegenüber, ein behäbiger Mann mit Schnauzbart und beträchtlicher Leibesfülle, der seinerzeit mit der Untersuchung des Falles betraut gewesen war.
»Dieser Mann hier, Justus Hürli, hat damals behauptet, Giaconuzzi sei nach Brasilien geflogen.«
Gertl schnaubte. Mit einem bayerischen Bass, der auf der Wies’n sicherlich großen Eindruck hinterlassen hätte, polterte er: »Ach, der
Hürli
… der ist uns damals arg auf die Nerven gegangen! Immer wieder war der da und hat nicht locker g’lassen …«
»Aber Sie haben ihm nicht geglaubt?«
»Der Hürli war ein
Junkie
, verstehen’S, dem hat das Heroin das G’hirn rausblosen.«
»Aha«, sagte ich. »Und was genau hat dieser Hürli ausgesagt?«
»Na ja, im Prinzip des, wos in der Aussage steht. Nämlich, dass der Giaconuzzi ein Ticket g’habt haben soll, nach Rio de Janeiro.«
»Ein Flugticket nach Rio? Das ist ja allerhand.«
Gertl nickte. »Und dann soll er ihm Geld gezeigt haben, viel Geld …«
»Aber … woher soll Giaconuzzi – der war doch arbeitslos – denn Geld gehabt haben?«
»Eben! Und diesen Schmarrn hat ihm eben keiner glauben können.«
»Aber … ich verstehe das nicht. Warum hätte dieser Hürli sich die Mühe machen sollen, die Polizei davon zu überzeugen …«
Gertl stützte die Unterarme auf die Schreibtischplatte und beugte sich vor.
»Der Hürli war ein Junkie. Ich weiß nicht, ob Sie Erfahrung haben mit Junkies?« Gertls Gesicht bekam einen verächtlichen Ausdruck.
Ich zögerte einen Moment lang. Irgendetwas passte hier nicht. Und dann kam ich darauf, was es war: »Ich habe zwar keine Erfahrung mit Drogenabhängigen, aber … ist es nicht eher so, dass sie die Polizei meiden?«
Gertl betrachtete mich mit einer Mischung aus Mitleid und Ungeduld. »Herr Winther, ich versteh ja, dass die Sache Sie beschäftigt. Da ist ein Mann umgekommen, auf Ihrem Firmengelände. Aber Sie selbst haben doch Ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um ihn zu retten, und Sie wären dabei fast selbst verbrannt. Lassen’S die Sache ruhen, da ist nix, was es noch zu wissen gäb.« Er zog die Mappe zu sich heran, schlug sie zu und stand auf.
Ich blieb sitzen. »Ich … ich würde mich gerne mit dem Mann unterhalten. Wo finde ich ihn?«
»Was weiß ich!« Gertl zuckte die Achseln. »Der hat sich sicher längst den goldenen Schuss gesetzt.«
Ich erhob mich und trat zu Gertl. »Aber falls er noch lebt?«
»Der war aus der Schweiz, glaub ich. Moment …« Gertl begann, in der Akte zu blättern. »Da. Ursprünglich aus Zürich, bevor er hierher an den Bodensee kam. Hier ist die Anschrift von seinen Eltern … wenn’S die wollen. Aber wissen’S scho: Von
mir
ham’S die net!«
Ich nickte. Gertl nickte. Dann kritzelte er Namen und Anschrift auf ein Stück Papier und sagte: »Ja mei.«
Scherer Consult
An diesem Tag begann ich damit, meine Firmenvergangenheit systematisch aufzuarbeiten. Ich ließ mir aus der Buchhaltung
Weitere Kostenlose Bücher