Der andere Tod
nun, während Hoffmann neben mir Flüche vor sich hin murmelte – so schnell war doch keiner, wenn es darum ging, sich einen Liebhaber zuzulegen! Ich dachte an unsere letzte Nacht in Prag, an die verzweifelte und traurige Sehnsucht, die Anouk ausgestrahlt hatte. Ich hatte das als Sehnsucht nach
mir
, nach Zweisamkeit mit mir interpretiert. So sehr konnte ich michdoch nicht getäuscht haben. So schnell konnte man doch nicht umschalten von einem Ehemann zu einem Liebhaber. Oder doch?
Ich schielte auf den Tacho. Inzwischen fuhren wir nur noch 40 km/h. Meine Hoffnung auf eine Wetterberuhigung nördlich der Alpen hatte sich nicht erfüllt und zu dem Unwetter hatte sich die Dunkelheit gesellt. Der Regen fiel in sturzbachartigen Güssen vom Himmel.
Ich fragte Hoffmann, ob wir einen Fahrerwechsel vornehmen sollten, aber er schüttelte nur den Kopf und schaute weiterhin verbissen auf die Fahrbahn.
Dann wandte ich mich erneut meinen Gedanken zu. Jetzt war ich bei der Möglichkeit angelangt, Anouk einfach zur Rede zu stellen. Ich konnte sie vielleicht fragen: »Ich habe dich in dieses Haus in St. Margrethen gehen sehen. Was hast du dort getan?«
Doch schon während diese Option auftauchte, wusste ich, dass ich sie verwerfen würde. Tief in meinem Inneren glaubte ich wohl nicht recht daran, dass ich auf diesem Weg die Wahrheit erfahren würde. Zudem könnte bei Anouk der Verdacht entstehen, ich hätte sie bespitzelt.
Viel näher war mir da der Gedanke, einfach zu dem Haus zu fahren und erst mal die Klingelschilder zu lesen. Es konnte ja sein, dass dort jemand wohnte, den Anouk irgendwie betreute, um den sie sich einfach kümmerte. Eine alte Dame zum Beispiel, ein gebrechlicher Onkel. Ich musste fast laut herauslachen, so absurd war dieser Gedanke und so lächerlich der Eifer, mit dem ich mich sofort daran klammerte.
Auf der Höhe von Thusis ließen die Regengüsse nach und gingen in ein gleichmäßiges Nieseln über. Hoffmann entkrampfte sich. Er klebte jetzt nicht mehr direkt hinter der Scheibe.
Es war tiefe Nacht, als ich zu Hause ankam. Ich nahm an, dass Anouk schon lange eingeschlafen war, und redete mir ein, dass ich sie nicht stören wollte. So bezog ich im Wohnzimmer auf dem Sofa Quartier. Ich öffnete alle Schiebetüren zum Garten und ließ die frische Nachtluft herein mit ihrem Rauschen und einem Wehen in den Blättern.
Noch lange saß ich wach auf meinem Lager, blickte hinab ins Tal und ließ die unzähligen Lichter auf mich wirken. In der Mitte ein schwarzes Nichts: der See. Nun war ich also wieder zurück. Die kurze Gnadenfrist war vorüber und das Rad drehte sich weiter,
musste
sich weiterdrehen, irgendwie. Noch immer war ich zu keinem Entschluss gekommen. Was sollte ich bloß tun, um mehr Licht in die mir unbegreifliche Beobachtung vor einem Wohnblock in St. Margrethen zu bringen?
Zu allem Überfluss fiel mir auch noch ein, dass am Abend des nächsten Tages Barbaras von langer Hand geplante Wiedersehensfeier stattfinden sollte. Mit Grausen dachte ich an all die Menschen, die ich nicht mehr kannte, die
mich
aber sehr wohl kannten und erwarteten, einen verloren geglaubten Freund genau an der Stelle wieder zu begrüßen, an der er vor zwei Jahren gestanden war.
Aber genug davon. Es gab schließlich Wichtigeres. Mit aller Gewalt versuchte ich, die Gedanken an dieses fürchterliche Fest zu verdrängen, und wandte mich stattdessen meinen Finanzen zu.
Ich speiste meinen luxuriösen Lebenswandel also aus einer mir unbekannten Quelle. Meine Muskeln spannten sich an. Wut stieg in mir auf – eine Wut auf das Schicksal, das einen Teil meines Erinnerungsvermögens einfach geschluckt hatte. Eine sinnlose und kraftraubende Wut. Spruchbänder zogen an meinem inneren Auge vorüber. Dass man im Leben immer das erntete, was man zuvor gesäthatte. Ich fragte mich, wie meine Saat wohl ausgesehen haben mochte.
Am nächsten Tag bemühte ich mich erneut, das Antiquariat, in dem Justus Hürli möglicherweise arbeitete, telefonisch zu erreichen. Wieder ging keiner ran. Das ungute Gefühl, das stets beim bloßen Gedanken an ein Gespräch mit Hürli aufkam, war inzwischen purem Wissensdurst gewichen. Ich ertappte mich selbst bei einem dümmlichen Grinsen und dem Gedanken, dass mein Gedächtnisverlust zumindest
ein
Gutes hatte: Das Leben war richtig spannend. Es war – positiv betrachtet – eine einzige große Entdeckungsreise durch ein unbekanntes Land. So ähnlich musste Humboldt sich gefühlt haben!
Natürlich
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