Der andere Tod
Gesichtsausdruck blieb unverändert, freundlich und zugleich unergründlich. Auf einmal überkam mich eine große Müdigkeit, die nichts mit körperlicher Schwäche zu tun hatte. Er schien auf etwas zu warten, eine Erklärung, eine Eröffnung, irgendetwas. Darum räusperte ich mich und fragte: »Könnten wir uns irgendwo unterhalten? Es gibt da etwas, was ich gerne von Ihnen wüsste …«
Hürli nickte, dann bat er mich, Platz zu nehmen. »Ich koche uns erst mal einen Tee. Einen heißen Tee gegen die Hitze! Sie glauben’s vielleicht nicht, aber das ist die beste Erfrischung.«
Bei näherem Hinhören erkannte man die Schweizer Hintergrundmelodie in seinem Hochdeutsch.
Mit einem leichten Nicken setzte ich mich im Hinterzimmer an einen eigentlich runden Tisch, dessen Platte zur Hälfte an die Wand geklappt war.
Ich hörte Justus Hürli im Nebenraum hantieren. Ein Topfdeckel klapperte, Geschirr klirrte. Als ich schon glaubte, er würde niemals wieder auftauchen, stand er plötzlich da und stellte eine eierschalenfarbene Kanne auf den Tisch. Daneben platzierte er zwei elegante Tassen und schenkte mir ein. Er setzte sich, nahm Zucker aus einer anachronistischen silbernen Zuckerdose und rührte ihn in seinen Tee. Ich tat es ihm nach, dann sagte ich: »Ist das Ihr Laden?«
Hürli schüttelte langsam und ernst den Kopf. »Das wäre wohl zu viel des Guten.«
»Warum das?«
»Nun, ich nehme an, Sie kennen meine Geschichte. Oder den Teil, der meinen Zustand vor mehr als zwei Jahren betrifft.«
»Ihre Drogenabhängigkeit.«
»Ja.«
Ich wusste nicht, was ich nun sagen sollte, ohne dämlich, gönnerhaft oder weltfremd zu klingen. Schließlich fiel mir nichts Besseres ein als: »Aber Sie haben es geschafft.«
Hürli lächelte nachsichtig, fast väterlich.
»Das«, sagte er und nahm einen Schluck Tee, »wird sich erst auf meinem Totenbett zeigen. Ob ich es
geschafft
habe.«
»Aber … Sie sehen …
gut
aus. Sie tragen dieses Shirt …«
»Das hat nichts zu sagen. Es zählt nicht … So sehe ich
heute
aus, verstehen Sie. Aber das sagt nichts … gar nichts darüber aus, wie ich
morgen
aussehen werde.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Tja, wie soll ich sagen. Einmal Junkie, immer Junkie. So ist das nun mal. Da darf man sich nichts vormachen. Ich kenne Leute, die waren fünfzehn, zwanzig Jahre lang clean, und dann sind sie rückfällig geworden. Totaler Absturz.«
»Aber nun arbeiten Sie hier.«
Er lachte. »Sie können es nicht lassen, hm? Unverbesserlicher Optimist. Tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass es den Laden in zwei Monaten nicht mehr geben wird.«
»Warum?«
»Die Bibliophilen sterben langsam aus. Herr Feigenbaum ist schon alt und niemand will das Geschäft übernehmen.«
»Das ist … schade.«
»Finde ich auch.«
»Und was werden Sie dann machen?«
»Ich werde schon etwas finden.«
» Sie
sind Optimist. Aber das muss man wohl auch sein, wenn man … Wie haben Sie das denn geschafft, damals?«
»Wie ich clean geworden bin? Mit einer Methadon-Therapie. Seit ich clean bin, engagiere ich mich da auch, bei einem Methadon-Projekt. Dreimal die Woche nachmittags.«
Jetzt entstand eine Pause. Ich überlegte fieberhaft, wie ich weiter vorgehen sollte.
Justus Hürli betrachtete mich schweigend. Er nahm seine Teetasse hoch, trank einen Schluck, setzte sie mit einem Klirren auf den Unterteller und sagte unvermittelt: »Sie sind doch sicher nicht gekommen, um sich mit mir über mein Drogenproblem zu unterhalten?«
Hätte die Frage nicht so geklungen, wie sie aus Justus Hürlis Munde klang, hätte er mich nicht angesehen, als habe er ein großes und tiefes Wissen um die Welt und ihre Belange – ich hätte weiterhin geschwiegen. So, wie ich seit dem großen Feuer geschwiegen hatte, wie ich Jaro und Frau Meerbaum, Wenzlow und Hoffmann und letztlich Anouk gegenüber geschwiegen hatte.
»Worüber möchten Sie mit mir sprechen?« Dabei sah er mich an, als wüsste er die Antwort längst.
»Nach dem Brand damals … Also, was ich sagen will: Ich war schwer verletzt und mein Erinnerungsvermögen weist ein paar Lücken auf. Ich kann mich an einzelne Dinge nicht mehr erinnern, die vor dem Brand geschehen sind. Ich war lange weg, in Kliniken und so …« Das war natürlich hoffnungslos untertrieben. Schließlich hatte ich fast gar keine Erinnerung mehr. Aber ich wollte mich nicht gleich vollkommen entblößt in die Hände eines Fremden begeben.
Hürli nickte. Er saß einfach da und nickte, als hörte
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