Der andere Tod
Um Himmels willen, sag es mir!«
Mit einem Mal presste sie sich an mich und schlang die Arme um meinen Hals. Ihr Atem roch nach Alkohol undihr Parfüm war schwer und süß. Sie flüsterte wieder viel zu nah an meinem Ohr: »Du kannst das alles doch nicht vergessen haben!«
Jetzt dämmerte mir, worauf ihre Anspielungen abzielten. Ich erschrak, mir wurde schwindlig. Hastig sah ich mich um. Glücklicherweise waren wir den Blicken der anderen entzogen.
Ich wich zurück. Doch Barbara rückte nach, ihr Mund ganz dicht an meinem. »Was ist nur los mit dir! All die Dinge, die wir miteinander … getan haben! Weißt du noch, unser Wochenende in Florenz?«
Mir wurde immer heißer. Die Gedanken überschlugen sich wie herabpurzelnde Steine. Das alles konnte, das alles
durfte
nicht wahr sein.
»Dass du wieder da bist, nach dieser endlosen Zeit …« Sie begann ihre Lippen auf meine zu pressen, ihre Hände glitten meinen Rücken hinunter und ich spürte ihre Brüste.
Das Feuerwerk war zu Ende. Die Musik setzte ein. Wie durch einen Nebel hörte ich ›Corcovado‹ von Getz. Plötzlich löste Barbara sich von mir und trat einen Schritt zurück. Fast tonlos flüsterte sie: »Das glaube ich nicht. Du kannst doch nicht alles vergessen haben, das mit uns.«
Sie sah mich völlig unverwandt an und schlug die Hände vor den Mund, so, als stünde in meinem Blick etwas Unaussprechliches geschrieben. Und dann stieß sie aus: »Du bist so anders! Es ist gerade so, als … wärst du ein Fremder.«
Gänzlich verwirrt drehte ich mich um und rannte davon. Weg von dieser Frau, die irgendein diffuses Recht auf mich zu haben glaubte, weg von der brünstigen Schwüle ihres Körpers, ihres Parfums, das inzwischen sicher schon in meinen Kleidern und in meinen Haaren hing. Weg von der Erkenntnis, ein Betrüger gewesen zu sein, ein Verräter, der verraten worden war.
Alttestamentarisches
In dieser Nacht hallten Barbaras Worte aus der Erinnerung zu mir herüber.
Ein Fremder.
Wenn sie gewusst hätte, wie recht sie damit hatte! Dass ich tatsächlich ein Fremder war unter all diesen Menschen, die mir doch eigentlich vertraut hätten sein sollen.
Aber es ging ja noch weiter. Ich war ein Fremder vor mir selbst. Noch beim Einschlafen grübelte ich und als der Schlaf endlich kam, wurde ich von Alpträumen geplagt. Es begann immer auf dieselbe Weise.
Ich fahre nach Hause, in der festen Absicht, Anouk zur Rede zu stellen. Sie hat irgendetwas getan, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Ich bin so voller Groll! Um mich herum ist alles schwarz: die Straße, das Tal. Es gibt keine Lichter, keine Häuser, nur die Schwärze der Nacht.
Der Alptraum eines Wissenschaftlers, der über der Vorstellung des Nichts, der Unendlichkeit, seinen Verstand verliert.
Ich fahre durchs Dunkel, auch mein Auto hat keine Scheinwerfer. Ich fahre langsam, tastend, einmal komme ich fast von der Straße ab. Unter mir gähnt der Abgrund. In letzter Minute reiße ich das Steuer herum.
Und plötzlich ist da unser Haus. Hell erleuchtet. Eine absurde Fatamorgana, die aus der Wüsteneinsamkeit herauswächst. Ichbin erleichtert, doch dann merke ich, dass etwas nicht in Ordnung ist. Hier lauert etwas Krankes, Bedrohliches.
Ich stelle den Wagen ab, gehe auf den Eingang zu. Er verströmt gleißendes Licht. Von innen dringen Stimmen heraus. Ich bin verwirrt und habe Angst, große Angst. Ich muss zu Anouk. Doch Anouk ist da drinnen, inmitten der Stimmen, und ich weiß: Wenn ich dort hineingehe, wird auch auf mich das Scheinwerferlicht fallen. Alle werden sehen, dass ich ein Fremder bin.
Ich beschließe, das Haus durch die Hintertür zu betreten. Behutsam schleiche ich durch den Garten. Immer tiefer tauche ich ein ins Gestrüpp. Äste knacken unter meinen Schritten, Laub raschelt.
Plötzlich weiß ich, dass etwas Furchtbares, Grauenerregendes in diesem Gebüsch verborgen liegt. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Es ist gerade so, als steckten meine Füße in Beton. Schweiß rinnt über meine Stirn, tropft in meine Augen.
Mit allerletzter Anstrengung gelingt es mir, einen Schritt, zwei Schritte zu tun.
Dann geht es weiter. Ich weiß, dass ich leise sein muss. Wie ein verängstigtes Tier schleiche ich im Halbkreis um die Partygesellschaft herum. Die Menschen im Garten lachen dämonenhaft.
Jetzt sehe ich Anouk.
Sie steht am Rand des Gartens, neben einem Brunnen, und taucht ihre Hände ins Wasser. Ich bin erleichtert. Eine warme Woge des Glücks streicht wie ein
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