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Der andere Tod

Der andere Tod

Titel: Der andere Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Jonuleit
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lauter. Nach den ersten Takten erkannte ich ›Un bel dì vedremo‹ aus ›Madame Butterfly‹.
    Und dann ging alles ganz schnell. Blitze flammten vor mir auf, Erinnerungsfetzen in fotografischer Klarheit, die auf mich zuschossen, mit atemberaubender Geschwindigkeit. Das Zimmer um mich begann sich zu drehen, in einem wilden Tanz. Ich musste diese Teufelsmusik abschalten, um jeden Preis. Dann glaubte ich, einen bestimmten Duft wahrzunehmen, einen orientalischen, die Sinne betörenden Duft.
    Ich hatte Mühe, mich auf den Beinen zu halten, und sackte langsam zusammen.
    Auf einmal wurde mir klar, dass ich schon einmal hier gewesen war: Ich wusste, in diesem Moment, noch bevor ich weiter in die Wohnung vorgedrungen war, dass auch das Schlafzimmer fernöstlich eingerichtet war, mit einem Futonbett und einem großen Fächer, der am Bettende stand. Noch bevor ich das Bad betrat, sah ich die weißen Kacheln vor mir. Auf dem Boden ein Lattenrost, in der Art, wie man ihn in Saunas hatte. In einem Bambusregal zusammengerollte, bunte Handtücher. Das Bad hatte keine Wanne, sondern nur eine Duschkabine aus Glas.
    Diese Bilder, die vor mir aufblitzten, verängstigten mich. Was hatte es mit diesem Déjà-vécu-Erlebnis, dieser Bekanntheitstäuschung, auf sich?
    Das eigentlich Beunruhigende daran war, dass die Wohnung auf diesen inneren Bildern bevölkert war von Anouk. Von einer lachenden und glücklichen Anouk, im weißen Frottee-Morgenmantel, mit einem roten Band im Haar. Anouk im Bad, in brombeerfarbenen Dessous. Anouk im Wohnzimmer auf dem Boden, an Kissen gelehnt und rauchend. Dabei wusste ich doch, dass sie Nikotin verabscheute. Und doch wirkte dieses Bild so real. Schließlich Anouk nackt auf dem Futon. Die Morgensonne liebkoste ihr verschlafenes Gesicht.
    Doch der Mann, der, wie ich wusste, auch da war, da sein
musste
, blieb verborgen. Er erschien nicht in meinen Erinnerungsfetzen. Es war gerade so, als bliebe er absichtlich im Schatten meiner Imagination.
    Was bedeutete das alles, wieso sah ich Anouk so deutlich in dieser Wohnung, vor dieser Kulisse? Hatte ich von diesem Verhältnis gewusst? Hatte ich die beiden vielleicht hier überrascht?
    Benommen blieb ich auf dem Wohnzimmerboden sitzen. Es war, als würde ich in ein Gewässer hinabtauchen. Von draußen musste es überschaubar wirken. Aber unter der Wasseroberfläche taten sich immer neue Höhlen auf. Jede Höhle öffnete sich zu einer weiteren, dahinter liegenden Höhle. Ich war in einem Untersee-Labyrinth gefangen und der Sauerstoff ging mir aus.
    Was war bloß aus meinem Plan geworden? Ich hatte vorgehabt, die unbekannten Winkel meines Lebens auszuleuchten, doch der Schuss war nach hinten losgegangen.
    Nichts
war mir wirklich vertraut.
    Wo auch immer ich ansetzte, stets blieb ich verwirrt zurück. Stets wurde meine Situation noch komplizierter als zuvor.
    Ich stellte die Musik aus und sah mir die CDs auf dem Ständer an. Die meisten kannte ich. Dann warf ich noch einmal einen Rundumblick auf das Zimmer und wappnete mich für die Erforschung der übrigen Räume.
    Alles war so, wie ich es vor meinem inneren Auge bereits gesehen hatte: Das Bad war weiß, das Schlafzimmer asiatisch. Ich begann, die wenigen Möbel zu durchwühlen.
    Im Grunde suchte ich nichts Bestimmtes. Dennoch fragte ich mich, während ich seine Tempos, Wattestäbchen und Ersatzzahnbürsten sichtete, was ich zu finden hoffte.
    Auf einem glänzend schwarz lackierten Nachttisch imSchlafzimmer lag ein Buch, in dem er offensichtlich vor dem Einschlafen gelesen hatte. Es war in graues Leinen gebunden, antiquarisch erworben oder einfach nur alt. Der Titel lautete: ›VEB Schwermaschinenbau Karl Liebknecht‹. Flüchtig blätterte ich es durch, sah einige handschriftliche Anmerkungen und wunderte mich einen kurzen Moment darüber, dass man so etwas überhaupt aufhob. Ohne mir weitere Gedanken darüber zu machen, steckte ich das Buch in meinen Rucksack. Zu Hause würde ich mir genauer ansehen, womit sich mein Widersacher befasste.
    Nun war der rote Kleiderschrank an der Reihe. Ich tastete Lewinskys Anzüge und Hosen ab und nahm seine Pullover aus den Fächern, immer in der Hoffnung, zufällig auf etwas zu stoßen, was mir den Menschen Lewinsky erschließen würde.
    Ja, ich wollte verstehen, was für ein Mensch er war. Was Anouk bewogen hatte, sich mit ihm einzulassen, obwohl sie doch
mich
hatte.
    Ich zog ein dunkelblaues Poloshirt heraus und hielt es mir vor den Körper. Dann schlüpfte ich kurzerhand hinein.

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