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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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den zweiten Stock. Der Hund bekam einen Schluckauf, einen sehr heftigen, dann durchfuhr ihn ein Beben vom Kopf bis zum Schwanz. Luke fragte: »Was bedeutet das?« Ich antwortete nicht, wusste auch nicht genau, was passieren würde. Ich hasste Unordnung, und so hoffte ich, dass der Tod des Hundes ruhig und ordentlich und irgendwie würdevoll vonstattengehen würde, dass er sich zu einem Nickerchen hinlegen und nie wieder aufstehen würde. Aber die Dinge schienen sich irgendwie anders zu entwickeln. Das Tier bekam erneut einen Schluckauf, und ein dünnes Rinnsal aus Galle sickerte ihm aus dem Maul. Luke blieb ruhig. Weitere Krämpfe schüttelten den Hund, und dann gab er einen reißenden Strom Erbrochenes von sich, gemischt mit Blut. Das Zittern ließ nach, das Tier sackte zu Boden, und eine Lache breitete sich um seinen Körper herum aus.
    Ich sah Luke an. Er wich zurück und stand mitten im Wohnzimmer, die Hände vorm Gesicht, die Knöchel einer Faust in den Mund gepresst, eine vollkommene Fratze des Grauens. Ich richtete mich auf, wusste nicht, was ich tun sollte, als ich bemerkte, dass die Musik verstummt und Claires Schritte auf der Treppe zum zweiten Stock zu hören waren. Als sie auf der letzten Stufe erschien, standen wir immer noch wie versteinert da, ein lächerliches Bild. Zuerst sah sie Luke. Mit verständnislosem Blick ging sie zu ihm, bis sie den Hund entdeckte. Sie stieß einen einzigen spitzen Schrei aus, bevor sie zum Körper des Tieres stürzte.
    »Du lieber Himmel, was ist mit ihm passiert? Luke? Was ist passiert?«
    Luke sagte nichts, wich einen weiteren Schritt zurück. Claire ließ von dem Hundekörper ab und streckte die Arme nach ihrem Sohn aus.
    »Luke, ist alles in Ordnung mit dir? Bitte sag, dass alles in Ordnung ist. Was …« Sie starrte auf das Pillenfläschchen auf dem Küchentisch, ohne Deckel, leer. »Wo hast … hast du ihm diese hier gegeben? Antworte! Hast du ihm die hier gegeben?« Sie riss die Flasche an sich, schüttelte sie, schwenkte sie vor sich wie eine Waffe.
    Luke sagte zunächst nichts, dann zeigte er mit dem Finger auf mich und sagte: »Daniel hat gesagt, ich soll das tun. Er hat gesagt, es ist Medizin für Midnight.«
    »Daniel? Nein. Du hast es getan, Luke. Wie kannst du Daniel die Schuld dafür geben? Lüg mich nicht an, niemals.«
    »Ich lüg dich nicht an, Mom. Wirklich nicht.«
    »Du hast doch nicht etwa selbst welche von den Dingern hier genommen, oder? Bitte sag, dass du keine genommen hast.«
    Luke schüttelte den Kopf. Er begann zu weinen, verzehrend und erbärmlich zu schluchzen. »Gut.« Claire atmete tief durch wie ein Taucher, der sich zum Luftholen kurz an die Wasseroberfläche begibt. »Alles in Ordnung«, sagte sie. »Wie oft habe ich dir gesagt, dass du aus meinem Bad herausbleiben sollst? Wie oft habe ich dir gesagt, dass du meine Medizin niemals anrühren darfst?«
    Luke hockte auf dem Boden. Röchelnd schnappte er nach Luft, öffnete seinen Mund weit, um die Lungen voll Luft zu bekommen. Ein paar Meter entfernt lag der Leichnam auf den Küchenfliesen. Ich zog mich vorsichtig in die andere Ecke des Raumes zurück. Mein Werk war vollbracht. Luke starrte, auf dem Boden kauernd, zu mir hoch. Er würde mich nun hassen, aber Hass lässt sich wenigstens nicht ignorieren oder vergessen. Er konnte mich von seiner Schuld nicht trennen, von der aberwitzigen Gewissheit, dass wir die Flasche gemeinsam aus dem Schrank genommen, die Tabletten in den Napf gegeben und sie unter das Hundefutter gemischt hatten. Wir waren Komplizen bei diesem Verbrechen. Je mehr er versuchte, sich von mir zu lösen, desto weniger war dies möglich, und so wurde ich gerettet.
     
    An dem Tag, nachdem Luke und ich den Hund getötet hatten, machten wir drei einen Spaziergang zum Strand. Sie wollten mich nicht bei sich haben, aber das störte mich nicht. Ich fühlte mich stark. Ich konnte tun, was ich wollte.
    Die Pfeilschwanzkrebse waren zurückgekommen. Über Nacht war ein Sturm durchgezogen, und letzte tiefliegende, zerfetzte Wolken fegten über den südlichen Horizont. Der Atlantik war aufgewühlt, Schaumbänder durchzogen das Graugrün der See. Eine Kette dunkler Klumpen lag hart und glänzend an der Flutlinie aufgereiht, wie Helme, die nach Köpfen suchten. Claire hob ein Stück Treibholz auf, schob es unter einen Krebs und kippte ihn um. Ein Dutzend Gliederbeinchen und ein Lamellenrand. Hinter den insektenähnlichen Anhängseln klebte etwas Breiiges, Weiches. Es schien uralt, wie

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