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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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Lebens den realen Abläufen vor, die Rolle jedes Spielers war klar festgeschrieben. Ich zwängte mich durch einen Spalt in dem Glas und kroch nach hinten in das Diorama, dort wo Erde und Bäume endeten und die gemalte Welt, geschwungen und unendlich, begann. Luke sah mir von der anderen Seite mit seinen verschieden großen Augen zu, als ich hinaufreichte und meine Finger über Wolken und ferne Hügel streichen ließ. Er wollte unbedingt zu den Dinosauriern gehen. Also gingen wir die Stufen zum obersten Geschoss des Museums empor, wo echte Knochen und Gipsabdrücke von Knochen zusammengesteckt und zu bedrohlichen Raubtierposen gebogen waren. Später bestaunten wir drei ehrfürchtig den Grizzlybären, der sich auf die Hinterbeine gestellt hatte, und reckten die Hälse nach dem gigantischen Blauwal, der majestätisch, plastisch und aufgeblasen wie ein Planet hoch über unseren Köpfen schwebte.
     
    Nach drei weiteren Besuchen bei Dr. Claymore und der einmonatigen Einnahme neuer Tabletten – niedlicher, hellblauer Pillen, die aussahen wie Karamellbonbons aus Kreide – fand ich mich in das Innere von Lukes Schädel verbannt. Das geschah nicht allmählich, wie meine Zersetzung auf Fire Island. Es war wie ein Sturz durch eine ungesicherte Falltür, gewaltsam und übergangslos.
    Wir bezogen ein neues Apartment an der Central Park West Avenue, von Claire wieder mit jener Geschwindigkeit hergerichtet, die nur der Wohlstand zulässt, und die Dinge nahmen für mich schnell ihren Lauf. Zunächst verstaute mich Luke in einem verschnürten Karton, der seinen Platz in der Ecke seines neuen Schlafzimmers fand. Nach mehrtägiger Schufterei hatte ich mich aber befreit. Danach zog er mich hinter sich her, wohin er auch ging, meinen Körper mit Drahtseil gefesselt, eine Metallplatte vor meinen Mund geschraubt und eine Leine, die mit einem Clip am Halsband befestigt war, um den Hals geschlungen, wobei mein Kopf immer auf dem Boden aufschlug, während er lief. Nachdem der Clip eines Tages zerbrochen war, so dass ich vom Bürgersteig auf die Straße rollte und erst kurz vor den Rädern eines Linienbusses zum Stillstand kam, stopfte er mich kurzerhand in eine schmale blaue Flasche, eines dieser antiken Apothekenstücke, das seine Mutter gekauft hatte, um seinen Bücherregalen ein wenig Persönlichkeit zu verleihen. Zusammengeknüllt wie ein gebrauchtes Taschentuch, das Gesicht gegen das fleckige Glas gepresst, beobachtete ich sein Kommen und Gehen durch die blaue Tönung, als befände ich mich unter Wasser, bis das Glas zunächst einen Riss bekam, dann platzte, die Scherben sich über den Boden ergossen, ich freikam und in sie hineinfiel. Schließlich, am einundzwanzigsten Tag, deponierte er mich in dem Puppenhaus, das Claire aus dem Schließfach geholt hatte. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er mich wie ein Insekt am Kopf.
    Die Newport-Nightingales hießen mich auf ihre ganz besondere Weise willkommen. Ich betrat den Eingangsbereich, in dem Lukes Großmutter Venetia in einem Schaukelstuhl saß und las. Als sie mich sah, ließ sie das Buch fallen und stürzte wie von Sinnen aus dem Raum, stieß gegen Wände und Möbel, bevor sie mit dem Gesicht nach unten im Wintergarten zusammenbrach. Ich tippte mit dem Zeh an ihren Körper, aber sie rührte sich nicht. Im Salon spielten ein altersgrauer Mann und sein jüngerer Partner Schach. Ihre Porzellangesichter trugen die erstarrten Züge leichter Überraschung, während sie die Köpfe zwischen mir und dem Schachbrett hin- und herbewegten. Nachdem sie ihre Läufer ausgetauscht hatten, seufzte der alte Mann: »Wenn du nun schon eine Weile bleiben wirst, warum machst du dich nicht nützlich und siehst nach dem Baby?«
    Mir fiel nichts anderes ein, als zu tun, was er sagte. Die Wiege im Kinderzimmer stand leer. Baby Claire fand ich im Schrank verstaut, unter einem Haufen schmutziger Wäsche versteckt. Es lag auf dem Rücken und weinte, ruderte mit Armen und Beinen wie ein umgekippter Käfer. Ich dachte daran, es unter dem schweren Tuch zu ersticken, brachte es aber nicht über mich. Stattdessen trug ich es in die Wiege zurück und steckte es unter den Laken fest.
    Eine Woche lang verwahrte mich Luke im Puppenhaus. Die beiden Männer tolerierten mich und luden mich schon bald ein, mich zu ihnen zu setzen und mit ihnen Schach zu spielen. Ich hatte Schwierigkeiten, mich an die immer gleichbleibenden Gesichter zu gewöhnen, daran, dass sich ihre Züge nicht veränderten – leicht geöffneter

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