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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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zuckte die Achseln. »Ich habe das nur getan, weil du nicht wolltest.«
     
    Am darauffolgenden Morgen fuhren wir zum Strandhaus von Sarahs Eltern. Im 9.15 -Uhr-Zug nach Montauk quetschte sich Luke in den Sitz neben einen Fettwanst mit nachlässig nach vorn toupierter Frisur. Ich thronte oben in der Gepäckablage. Der Zug war vollbesetzt, und ich konnte niemanden ausmachen, auf dessen Schoß ich mich hätte setzen mögen. Also blieb mir nur diese Möglichkeit. Long Island sauste draußen an den Fenstern vorbei, ein unscharfes Band aus Highways, Einkaufszentren und Sümpfen. Die Fahrt verging schnell.
    Sarah erwartete uns am Bahnhof von East Hampton. Sie trug türkisfarbene Shorts und ein weißes Polohemd und schielte hinter einer weißgerahmten Brille hervor. Sie sah ordentlich aus, prüde und fleißig, was sie ja auch war. Sie lächelte, als Luke auf den Bahnsteig trat, beschränkte sich aber auf einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Ihr Vater war nicht aus dem Auto gestiegen – Sarah hatte keinen Führerschein – und warf Luke durch den Rückspiegel ein halbherziges Lächeln zu, während er den Mercedes-Kombi in Bewegung setzte. Sie hatten sich in den letzten Jahren häufig gesehen, aber bisher hatte Luke noch nie versucht, seine Tochter zu vögeln. Das aberwitzig riesige Anwesen der Wises befand sich am Ende einer ruhigen Straße. Von der hinteren Terrasse aus deutete Sarah auf einen Golfplatz. »Der Strand liegt gleich dahinter«, erklärte sie. »Wir können hinübergehen, wenn es dunkel ist.«
    Wir gingen aber erst am Sonntag hin, an unserem zweiten und letzten Abend. Am Samstag gingen wir in einer Sushi-Bar essen, irgendwo, jedenfalls nicht in East Hampton. Auch hier gab es keinen Platz. Also stellte ich mich neben Lukes Schulter und beäugte von dort aus die Würfel und Streifen aus Fischfleisch, die auf weißen Reiskissen vor sich hin vegetierten. Die Stückchen waren kunstvoll auf Teller drapiert worden, was jedoch über den makabren Vorgang nicht hinwegtäuschen konnte, dass man sich tote Dinge in den Mund schob. Mr. Wise trank Sake und plauderte über Golf. Mit verkniffener Miene grollte Sarahs Bruder Beschimpfungen in ein Handy, das er unter dem Tisch verborgen hielt, während ihre Mutter Luke huldvoll anlächelte und dann verkündete, dass sie vor ein paar Tagen einen Anruf von Claire erhalten hatte: »Sie macht sich große Sorgen um dich, nicht wahr?« Zunächst fragte ich mich, wie viel sie wusste, dann, ob sie überhaupt etwas wusste. Ein wenig würde schon reichen, dachte ich. Sarah und Luke lächelten einander vertraut an, bis ich begann, mich zu langweilen, daher im weiteren Verlauf des Essens auf Mr. Wises Kopf Platz nahm und meine Beine auf seine Schultern herunterbaumeln ließ.
    Sie hatten uns im Erdgeschoss direkt unter Sarahs Schlafzimmer einquartiert. Luke zog Sarah in eine Ecke und flüsterte ihr hastig ins Ohr: »Ich komme später zu dir. Wann ist es am besten?«
    Sie lachte: »Untersteh dich! Die Stufen knarren wie verrückt.«
    »Das macht nichts«, insistierte Luke.
    Sie vergewisserte sich, dass niemand zuhörte, und berührte Lukes Brust. »Kommt gar nicht in Frage. Ich verspreche dir, wir machen morgen etwas aus. Geh jetzt ins Bett und gib Ruhe.«
    Luke saß da und las, während ich im Zimmer auf und ab tigerte. »Das ist doch albern. Ich hab dir doch gesagt, dass sie reine Zeitverschwendung ist.«
    »Sie ist ein süßes Mädchen«, entgegnete Luke. »Und ich bin nicht nur deshalb hergekommen.«
    »Das ist ja sehr nobel von dir, aber wenn ich zu entscheiden hätte, dann wären wir jetzt oben und würden es auf der Stelle mit ihr treiben.« Kaum waren mir diese Worte über die Lippen gekommen, fürchtete ich, zu weit gegangen zu sein.
    Luke klappte sein Buch zu und starrte mich an. »Das wirst du aber nie, also verschwende erst gar keinen Gedanken daran.« Einen absichtsvollen Moment lang hielt er seinen Blick an meinen geheftet. Schließlich wandte er sich seinem Buch zu, riss aber gleich wieder den Kopf hoch: »Was meinst du eigentlich mit ›wir‹?«
    Nachdem wir auch am zweiten Tag den ganzen Nachmittag in der brütend heißen Sonne herumgelegen hatten – auch eine dieser Freizeitbeschäftigungen, die ich zutiefst verabscheute, weil sie so vollkommen sinnlos waren –, schlug Sarah vor, über den Golfplatz zu den Dünen zu gehen. Von der hinteren Terrasse aus sahen wir Schatten über dem zehnten Grün herannahen, und noch bevor Luke antworten konnte, kam Sarahs Bruder mit

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