Der Andere
seine Uhr sah, während Luke seine Bücher zusammenpackte. Zwei Schüler in den hinteren Reihen tuschelten und zeigten mit dem Finger auf ihn, bis Omar sie angiftete und mit dem Finger über seine Kehle fuhr. »Ich halt zu dir«, sagte er zu Luke. »Und vergiss nicht, dass du auch mal nein sagen kannst.«
»Deine Mutter«, begann der Direktor. »Vielleicht sollte sie einmal darüber nachdenken, dir ein Gehalt zu zahlen.« Im Taxi fuhren wir die Columbus-Street und dann die 9 . Straße entlang, bis der Fahrer in die 22 . Straße nach Osten abbog und vor dem schmuddeligen Bürogebäude hielt. Die Räume der Nightingale Press befanden sich im vierten Stock, den sie sich mit einer Kanzlei für Personenschadensrecht und einem Meditationszentrum teilte. Luke stieß die Flügel der Glastüren auf und winkte Claire zu, die ihn vom anderen Ende des Großraumbüros bereits entdeckt hatte. »Liebling! Endlich! Wir warten schon seit Stunden. Dein Talent wird dringend benötigt.«
Claire schritt über den unbehandelten Holzboden, der von herumliegenden Manuskripten übersät, mit Bücherregalen zugestellt und von abgewetzten kleinen Teppichen bedeckt war. Das Chaos in den Räumen der Press war das Spiegelbild von Claires Durcheinander in ihrem Arbeitszimmer zu Hause. Es war nur größer und hatte zwölf Angestellte, die ihren Teil zur Unordnung beitrugen. Es war ein Großraumbüro, in dem Lektoren, Grafiker, PR -Leute und Vertriebs-Crew aufeinanderhockten, alle gleichzeitig redeten, die Telefone beharrlich klingelten, uralte Faxgeräte Verträge und Korrespondenz auf knisterndem und sich kringelndem Papier ausspuckten. Was Claire an ihrem Unternehmen vor allem schätzte, war eine antiquierte, möglicherweise auch zweifelhafte Art literarischer Authentizität. Symbol dafür waren der gigantische, verschrammte Konferenztisch aus Holz in der Mitte des Raums, die grünen Bankerlampen auf den Schreibtischen, die unglaubliche Menge an Büchern, überall, gestapelt auf jeder freien Fläche, in kleinste Räume gequetscht. In ihren fünfzehn Jahren als Verlegerin und Cheflektorin hatte sie immer versucht, das Programm zu modernisieren, aber die Ästhetik des Verlages, und zwar im Hinblick auf sein Erscheinungsbild wie auch im Hinblick auf die Art, wie sie und ihre Mitarbeiter arbeiteten, war ein gern bewahrtes Überbleibsel aus Venetias Tagen. Eine Idealisierung des Verlagswesens, und gleichzeitig ein unsinniger, aus der Mode gekommener Mythos. Auch wieder eines der Dinge, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte.
Claire stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihrem Sohn einen Kuss auf die Stirn zu geben. »Um eins bin ich mit einem Autor zum Essen verabredet, und ich brauche dein Urteil über sein Manuskript, bevor ich gehe.«
Luke schwang seinen Rucksack von der einen Schulter auf die andere. »Du meinst, ich soll ein Manuskript in einer Stunde und fünfzehn Minuten lesen?«
»Nein, natürlich nicht, Liebling.« Claire umklammerte Lukes Gesicht mit ihren Händen. »Nur das erste Kapitel. Diese Sorte Buch kann man schon nach dem ersten Kapitel beurteilen.«
Luke folgte seiner Mutter zum Konferenztisch, und wir gingen alle drei an einem riesigen Bücherregal vorbei, in dem, so schien es, je ein Exemplar sämtlicher Veröffentlichungen der Nightingale Press aufbewahrt wurde. Ich suchte die Buchrücken nach
Shadow Life
ab, konnte es aber auf den ersten Blick nicht ausmachen. Genauer hinsehen wollte ich nicht, um nicht Lukes Aufmerksamkeit zu erregen. Am Tisch saß ein muskelbepackter junger Mann mit kahlrasiertem Schädel. Sein schwarzes T-Shirt hatte er in die schwarzen Jeans gesteckt, und die wiederum steckte in schwarzen Springerstiefeln. Er zog eine Zigarette aus einer Packung Marlboro Reds und zupfte an der rosa Haut zwischen seinen Augenbrauen herum, als wollte er einen Splitter entfernen. Er hieß Gregory Herzen und war Programmleiter bei Nightingale Press. Er verkündete gerne, dass der einzige Grund, hier zu arbeiten, der war, dass Claire ihm bestimmte Dinge erlaubte, etwa das Tragen von T-Shirts und das Rauchen im Büro. Aber schon zwei Minuten, nachdem ich ihn kennengelernt hatte, war mir klar, dass er fast genauso in Claires Bann stand wie Luke. Das galt für jeden, der bei der Press arbeitete. Sonst hätten sie nicht in diesem heruntergekommenen Büro gesessen, nicht die abgestandene Luft geatmet und nicht diese muffigen Bücher hergestellt.
»Luke.« Gregory nickte uns zu und sprach um seine angezündete Zigarette herum.
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