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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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»Ich habe gehört, dass du mich heute Nachmittag vertreten wirst. Gott sei Dank, sonst hätte ich den armen Kerl womöglich an seiner Gazpacho ersticken lassen.«
    »Setz dich, lies.« Claire bugsierte Luke auf einen Stuhl und reichte ihm ein dickes Manuskript.
    Luke schob ihre Hände weg. »Ich gehe essen? Mit einem Autor?« Er schien nicht genau zu wissen, ob er sich geschmeichelt fühlen durfte oder verärgert sein sollte.
    »Ja, natürlich. Warum nicht?« Claire tippte auf das Manuskript und sah auf die Uhr. »Für solche Fragen haben wir jetzt keine Zeit.« Sie ging, blieb aber gleich wieder stehen und ließ ihre Finger über die Stoppeln auf Herzens Schädel hinunter in den Nacken gleiten. Er ignorierte sie und zog weiter an seiner Zigarette.
    Zum Essen begaben wir uns in ein französisches Restaurant in der 8 . Straße. Wir saßen im »Garten«, umschlossen von kahlen Häuserrückseiten, ein kleines Fleckchen Himmel hoch über unseren Köpfen. Schon die einfache Tatsache, dass wir unser Essen draußen einnahmen, garantierte einen fünfminütigen Plausch über irdene Blumenkübel und die milde Septemberwitterung. Dennoch schien sich der Autor während des lockeren Gesprächs nicht zu entspannen. Er lachte zu laut, als Claire scherzte, sie werde Herzen feuern und durch Luke ersetzen. Eingehend musterte ich den Mann am gegenüberliegenden Ende des weißen Tischtuchs. Blassgelb, ungelenk, mit rahmenloser Brille und den Relikten einer missglückten Nassrasur am Hals. Sein Adamsapfel, ein imposanter Knorpelklumpen, hob und senkte sich mit jedem Schluck Wasser, den er trank. Der bullige, schießwütige Held seiner Thriller war ganz offensichtlich eine Projektion der Sorte Mann, die er gern wäre. Erbärmlicher ging es wohl kaum!
    Die ersten Speisen wurden gebracht: drei verschiedene Sorten Salat, Lukes mit einem pochierten Ei und winzigen Speckwürfelchen darauf. Ich beobachtete die drei, wie sie dasaßen, wie Schweine vor ihrem Trog, beherrscht von ekelerregenden Impulsen, dem widerwärtigen Zyklus von Nahrungsaufnahme und Ausscheidung. Ich selbst befand mich in einer höherentwickelten Position. Allein zu beobachten, wie Luke in eine Kirschtomate biss, sich der Saft explosionsartig über sein Kinn und den Kragen des weißen Hemdes ergoss, stellte das hinreichend unter Beweis.
    Claire legte das Messer am Tellerrand ab. »Sie haben Pollard in diesem Buch eine interessante Entwicklung nehmen lassen. Ich hätte nicht gedacht, dass er so … animalisch wird.«
    Der Autor nickte energisch, sein Adamsapfel folgte der Bewegung seines Kopfes. »Das ist richtig. Ich wollte zeigen, wie Wut und Rache jeden von uns blind machen können, auch jemanden wie ihn. Wann und warum wird er seine Moralvorstellungen verraten? Ist das richtig, oder hat das überhaupt eine Bedeutung?«
    Ich sagte: »Ein erbärmlich geschriebener Reißer ist nicht gerade das geeignete Mittel zur Erörterung solcher Fragen.«
    »Aber die Folterszene gleich zu Anfang …«, Claire hielt inne. »Er ist genauso boshaft wie die Menschen, gegen die er kämpfen soll.« Sie wandte sich ihrem Sohn zu. »Luke, du hattest doch ein paar Ideen für den Anfang. Willst du sie uns nicht mitteilen?«
    Der Typ war ein miserabler Schriftsteller, aber von seinem vorangegangenen Pollard-Thriller hatten sich schon fast vierzigtausend Exemplare verkauft. Und nun sollte er sich die von Ahnungslosigkeit strotzende Kritik eines Neunzehnjährigen über sein Werk anhören. Luke hüstelte gekünstelt und sah betreten vor sich hin. »Das sollte dir peinlich sein«, meinte ich zu ihm. »Auf meine Hilfe kannst du nicht zählen.« Ich musste ihn zu der Einsicht bringen, dass Claire ihn in diese unangenehme Situation manövriert hatte, dass es ihre Schuld war.
    »Hm«, murmelte Luke. »Ich bin der Meinung, dass wir Natalies Entführung vorziehen sollten, vor die Folterszene.«
    »Natalies Entführung zuerst.« Die Augen des Autors huschten flink zwischen Luke und Claire hin und her, die ihren Sohn verklärt ansah. »Gut, und warum?«
    »Hm.« Luke trank einen Schluck Wasser. »Damit wir wissen, wenn wir Pollard mit der Zange und den Elektroden sehen, warum er all diese entsetzlichen Dinge tut, und es nicht erst hinterher erfahren.« Keiner sagte ein Wort. Wieder lief Luke rot an. »Ich meine, damit wir wissen, dass er es tut, weil er davon überzeugt ist, dass er dadurch ihr Leben retten kann.«
    »Hör dir doch selbst mal zu«, stichelte ich.
    Der Autor wand sich auf seinem Stuhl.

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