Der Andere
Sachen aufbewahrte. Sie sah uns an. Ihre Augen waren leer, wie tote Sterne.
»Warum finde ich in diesem Apartment nichts?«, schnauzte sie uns an. »Nichts ist dort, wo ich es zuletzt hingelegt habe. Wollen mich alle ärgern? Claires Klamotten verstecken, um zuzusehen, wie sie ausflippt? Okay, gratuliere, sehr lustig!«
»Schrei mich nicht an!«, wehrte sich Luke.
»Ich schreie nicht!«, zischte sie. »Ich bin nur ein bisschen frustriert. Vielleicht kannst du mir das erklären.«
»Ich weiß doch gar nicht, was du suchst.«
Claire zerrte an der Kette und schlang sie eng um ihren Hals. »Du warst es, stimmt’s?« Ihre Stimme bekam auf einmal einen hinterhältigen Unterton. »Ich wette, du hältst es für einen guten Witz, einen Nabokov zu nehmen und ihn zwischen meine Hemingways zu stopfen und die Fitzgeralds unter die Faulkners zu mischen. Sehr schlau. Und die Noh-Masken im Flur? Du hast den Zornigen Gott und den Alten Mann vertauscht, habe ich recht?«
»Warum sollte ich das tun?«
»Warum?« Claire trat gegen einen Stapel Raymond-Chandler-Erstausgaben. »
Das
ist der Grund. Ich. Hier und jetzt. Ich bin der verdammte Grund.«
Luke zog Claires Hände von ihrem Hals herunter und nahm sie zwischen seine. »Warum sagst du mir nicht, was du suchst?« Wie immer wurde er angesichts ihres Zorns ruhig, als seien die beiden ein geschlossenes System mit einem bestimmten Quantum Ärger, das es unter ihnen aufzuteilen galt.
Claire schlug Lukes Hände weg. »Sprich nicht mit mir wie mit einem kleinen Kind.«
»Dann benimm dich auch nicht wie ein Kind«, entgegnete ich.
»Ich versuche, dir zu helfen«, redete Luke auf sie ein. »Wenn du meine Hilfe nicht willst, dann gehe ich eben.«
Claire rieb sich die blutroten Narben, die sich um ihre Handgelenke und Hände wanden. »Ich suche ein Buch.«
Luke ließ den Blick über die leergefegten Regale schweifen. »Das habe ich mir schon gedacht.«
»Es ist eins von uns, aus dem Verlag.«
»Wo ist das Problem? Habt ihr nicht Exemplare aller Bücher bei euch im Büro stehen?«
»Du verstehst mich nicht!«, wandte sie ein. »Es ist ein besonderes Buch. Es ist einzigartig.«
»Ich weiß, wonach sie sucht«, sagte ich. »Du hast ein Problem.«
»Warum?«, wollte Luke wissen.
»Weil es nicht um das Buch geht«, erklärte Claire, »sondern um das, was deine Großmutter und ich hineingeschrieben haben.«
»Was habt ihr denn hineingeschrieben?«
Aber Luke konnte seine Mutter nicht anlügen. Claire spürte bereits, dass er etwas verschwieg. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Wo ist es?«
»In tausend Stücke zerfetzt, weggeworfen, verschwunden!«, rief ich vergnügt. Ich konnte es nicht lassen. »Tot und begraben!«
»Was redest du da, ich versteh kein Wort.«
»Luke, bitte, es ist wichtig. Gib mir sofort das Buch.«
Luke verschränkte die Arme vor der Brust. »Warum? Damit du dich umbringen kannst, so wie deine Mutter es getan hat?«
»Wie bitte?« Claire wich einen Schritt zurück und stolperte über einen Stapel Virginia Woolf. »Was sagst du da?«
»Weil es genau das ist, was Oma getan hat. Sie hat sich ertränkt, als ich zwei Jahre alt war. Warum? Wie?«
»Dann hast du das Buch also gelesen.« Claires Stimme klang entseelt.
»Wie hat sie es getan?«
»Wenn du es gelesen hast, dann kannst du es dir ja denken.«
»Sie ist in den Hudson River gegangen!«, sagte ich. »So wie die Frau in dem Roman.«
»Warum hast du mich belogen? Hirntumor? Diese ganze ausgefeilte Geschichte?«
»Ein Kind muss nicht alles über seine Familie wissen«, rechtfertigte sich Claire. Aber sie log schon wieder. Claire hatte Luke bisher nie davor bewahrt, zu viele Dinge schon in jungen Jahren zu erfahren. Sie sah ihn einen Augenblick lang an und meinte dann: »Sie ist überall in mir. Sie ist auch in dir. Ich habe Angst um mich, aber noch mehr Angst habe ich um dich.«
»Belüg mich bitte nicht schon wieder.«
»Dasselbe könnte ich dir sagen.« Claire bückte sich, hob ein Buch auf und stellte es ins Regal zurück: »Ich brauche das Buch, um zu sehen, wo sich meine Mutter geirrt hat. Ich brauche ihre Notizen. Ich muss ihre Fehler noch einmal lesen, damit ich sie nicht mache. Gibst du es mir bitte?«
Das konnten wir aber nicht, denn es war weg. Im April hatten wir den Roman vergraben. Inzwischen hatte die Erde Claires und Venetias Worte aufgenommen, sie den Pflanzen und der Luft übergeben. Nirgendwo konnte man nach ihnen suchen, außer in Blumenstengeln und oben im
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