Der Andere
»Claire, meinen Sie nicht, dass die Stärke der ersten Szene genau in diesem Unwissen liegt? Die Leser werden sich fragen, ob Pollard ausgeflippt oder wahnsinnig geworden ist. Sie werden sich fragen, was genau hier eigentlich los ist.«
Claire knackte mit den Fingern. »Ich bin mit Ihrer Arbeit zu vertraut, um hier von Nutzen zu sein. Entscheidender ist, was Luke denkt.«
Der Schreiberling blinzelte hektisch hinter seinen kleinen Brillengläsern hervor, bemüht, sich auf diese neue Lage einzustellen. »Nun gut, Luke, was ist mit dem dritten Kapitel, als Natalie umgebracht wird? Wenn die Leser erfahren, dass Pollard von Anfang an auf der richtigen Spur war und sein Fehler nicht darin bestand, rücksichtslos zu sein, sondern darin, nicht rücksichtslos
genug
zu sein? Denkt man dann nicht zurück und erinnert sich, wie
entsetzt
man bei der ersten Szene war, über die Folter? Und dann wird einem klar, dass er nicht weit genug gegangen ist.« Er wurde ungehalten. Winzige Schweißtröpfchen sammelten sich um seine Augenbrauen, und der überdimensionierte Adamsapfel geriet in Schwingung. »Ginge diese Spannung nicht verloren, wenn man die Reihenfolge der Szenen umstellen würde? Wenn die Folter offensichtlich
gerechtfertigt
wäre«, er spuckte die Worte aus: »Gleich von Anfang an?«
»Hm.« Luke sah zu seiner Mutter hinüber. »Ich bin, ehrlich gesagt, noch gar nicht so weit. Ich habe eigentlich – äh – eigentlich nur das erste Kapitel gelesen.«
Der Autor ließ sich in den Stuhl zurückfallen. »Das erste Kapitel? Das erste Kapitel? Claire, das ist absurd.«
»Merkst du gar nicht, wie sehr dich deine Mutter demütigt?«, fragte ich. »Das ist nicht in Ordnung.«
»Luke ist ein Naturtalent.« Claire warf dem Schriftsteller ein verzücktes Lächeln zu, ihre strahlend weißen Zähne sprangen vor. »Er erkennt, was jeder andere übersieht. Das erste Kapitel war alles, was er dazu benötigte.«
»Aber Claire, er ist erst …«
Sie legte eine Hand auf Lukes Schulter. »Ich traue seinem Urteil mehr als meinem eigenen.«
Luke wand sich aus der Berührung seiner Mutter heraus, aber hinter seinem Unbehagen verbarg sich diese schlüpfrige Art von Hochmut, die zu beobachten mir Übelkeit bereitete.
Später an diesem Abend lag Luke im Bett und las, und ich hatte meine gewohnte Position am Fenster zur Ostseite eingenommen. Von hier aus konnte ich das alte Apartment in der Fifth Avenue auf der anderen Seite des Parks sehen. Ich konnte sogar sagen, hinter welchem Fenster Cassies Schlafzimmer lag, auch wenn es nicht erleuchtet war, nicht jetzt und überhaupt nicht mehr, seit sie vor einem Monat ausgezogen war, um aufs College zu gehen. Sie besuchte eine Schule in Rhode Island und war damit plötzlich aus unserem Leben verschwunden. Sie hatte angerufen, einmal, um Luke zu kontrollieren, zu fragen, wie es Claire ging, um unverbindliche geschwisterliche Fürsorge zur Schau zu stellen. Luke reichte das, aber meine Beziehung zu ihr begann sich zu verändern. Aus uns wurden Gleichrangige, wir benahmen uns wie zwei Erwachsene. Während ich über den Park blickte, empfand ich ein bisher noch nie erlebtes Gefühl, das sich am Ansatz meiner Kehle entfaltete. Ich begriff, dass ich sie vermisste. Das Gefühl war neu. Ich rollte es in meinem Mund hin und her, prüfte es, versuchte herauszufinden, ob es gut oder schlecht war. Ich glaubte, es hatte ein wenig von beidem, und so beschloss ich, dass wir sie besuchen würden.
Als wir am nächsten Morgen aufstanden, um zur Schule zu gehen, war Claire schon weg. Sie hatte einen Zettel dagelassen, auf dem stand, dass sie schon früh zur Arbeit gegangen war und erst spät nach Hause kommen würde. Aber als wir am Nachmittag aus der Schule kamen, vernahmen wir dumpfe Schläge hinter der Tür ihres Arbeitszimmers. »Was treibt deine Mutter denn da?«, wollte ich wissen.
Luke ließ die Wohnungstür ins Schloss fallen, ging in die Diele und öffnete die Tür zum Arbeitszimmer mit einem missmutigen Ruck. Der Raum befand sich in einem heillosen Chaos. Claire hatte sich die deckenhohen Bücherregale vorgenommen und deren Inhalt auf dem Boden verteilt. Bücher lagen in Stapeln herum wie zusammengekehrter Schnee. Inmitten all der Unordnung stand sie, die Hände in die Hüfte gestemmt, keuchend vor Anstrengung. Sie trug ein schwarzes Cocktailkleid und eine diamantbesetzte Halskette. Die Kleider und der Schmuck gehörten ihrer Mutter. Sie hatte sie dem großen Schrank entnommen, in dem sie Venetias
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