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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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Körper. Du übergießt sie mit Wasser, um den Schmutz, den Makel und den Unrat des Daseins auf der Welt wegzusprengen, doch das, was darunter übrig bleibt, ist schlimmer. Nichts als ein nacktes, verwirrtes Tier.
    Wieder klopfte es an der Tür. Dieses Mal war Cassies Stimme zu hören: »Luke, bist du da drin?«
    »Lass mich!«, rief er. »Mir geht’s gut.«
    »Luke, bitte, lass mich rein.« Die Türklinke rappelte. »Ich will sichergehen, dass alles in Ordnung ist.«
    »Kein Versteckspiel mehr«, sagte ich. »Ich will, dass Cassie dich jetzt so sieht. Ich will, dass sie erfährt, wer du bist.« Ich schob Luke zur Tür und zwang ihn, aufzuschließen und die Klinke herunterzudrücken.
    Cassie stand im Flur und gaffte uns an, ein paar ihrer Freunde – das Glitzergirl, die braune Sportjacke, der rote Bart – hatten sich hinter ihr zusammengefunden. Das Bad war versunken in einem Nebel des Grauens, Luke kauerte mit gesenktem Kopf nackt in der Mitte, Wasser sammelte sich in einer Lache um seine Füße. Mit einer weit ausholenden Armbewegung deutete ich auf ihn wie ein Marktschreier und lud alle ein, die Show zu genießen.
     
    Eine Stunde später steckte Cassie Luke in ihr Bett. Sie flößte ihm Wasser ein, fütterte ihn mit Toast und verabreichte ihm Kamillentee. Jedes Mal, wenn er wieder ohnmächtig zu werden drohte, rüttelte sie ihn wach und zwang noch mehr Wasser seinen Schlund hinunter. Als sie endlich überzeugt war, dass er im Schlaf nicht sterben würde, ließ sie ihn wegdämmern. Während sie Zigaretten rauchte und die Krankenschwester mimte, tobte ich durch ihr Zimmer. Mein Vordringen in die physische Welt war von unerträglich kurzer Dauer gewesen. Wie eine Motte umschwirrte ich diese Krise, während Cassie Luke in geliehenen Klamotten auf die Rückbank des Autos eines Freundes verfrachtete. Sie hatte ihm in ihr Bett geholfen, seine Stirn gestreichelt und ihm versichert, dass alles wieder gut werde. So also funktionierte die Welt: Schwäche und Versagen wurden belohnt, über Stärke hingegen sah man großzügig hinweg.
    Als wir am Morgen hinunterkamen, lästerten ihre Mitbewohner und nannten Luke ein Weichei. »Ich glaub, du hast da einen Fleck übersehen«, sagte einer. »Dahinten ist ’ne Dusche, für den Fall, dass du eine brauchst.« Zum Frühstücken gingen wir in einen Diner, in dem Luke ein halb flüssiges Omelett und Bratkartoffeln in sich hineinstopfte. Er konnte mir nicht in die Augen sehen. Ihm war klar, dass sich in der vergangenen Nacht etwas Fürchterliches zugetragen hatte, konnte sich aber nicht erinnern, welchen Teil davon ich und welchen er selbst zu verantworten hatte. Er wusste nicht, wie sehr er vor mir auf der Hut sein musste. Ich konnte mich zwar an alles erinnern, wusste das aber auch nicht.
    Cassie schaffte uns vom Diner auf direktem Weg zum Bahnhof. Eine Nacht hatte sie den Babysitter gespielt, das reichte. Ich wollte ihr sagen, dass ich sie niemals, so wie Luke, in eine derartige Lage bringen würde. Ich wusste mich zu benehmen, war diszipliniert. Als wir aus dem Bahnhof herausfuhren, sah ich sie durch das Fenster an. Sie stand auf dem Bahnsteig und starrte über den Zug hinweg ins Leere. Ihre Mimik ließ keine Deutung zu, ihre Gesichtszüge wollten sich nicht zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen. Aber das war nicht wichtig. Sie war auch so sehr schön. Eines Tages würde ich mich ihr vorstellen. Eines Tages würde sie mich kennenlernen. Was danach passierte, konnte ich nicht sagen. Im halbleeren Zug presste Luke seine Stirn gegen das Fenster und schloss die Augen. Ich fragte mich, wann ich wieder die Gelegenheit bekäme, ihn betrunken zu machen, und ob er jedes Mal so hinreißend schwach werden würde. Ich wollte ihn zu der Erkenntnis bringen, dass er sich ohne meine Hilfe, ohne dass ich ihm noch näher kam, nur immer weiter erniedrigte.
    Ich dachte, wir würden nach Hause fahren. Aber an der ersten Haltestelle, keine zwanzig Minuten nach unserer Abfahrt, sprang Luke auf und stürmte durch die geöffnete Tür hinaus. Ich rannte ihm nach und schrie: »Was soll denn das?« Er antwortete nicht, ging einfach weiter, in den Tunnel hinein, der unter den Gleisen entlangführte, auf der anderen Seite wieder hoch, dann durch das heruntergekommene Bahnhäuschen hindurch auf den Parkplatz, auf dem ein verdreckter Bus vibrierend wartete. Wir stiegen ein. Nur drei andere Passagiere fuhren mit, die jeder für sich unterwegs waren. Ich fragte Luke, wohin wir fuhren, aber er antwortete

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