Der Andere
rührte sich nicht. »Wir sollten nicht näher herangehen«, sagte er. »Es gehört uns nicht mehr.« Ich ging näher heran, bis ich erkennen konnte, dass es einen dunkelroten Anstrich, ein schuppenartiges Ziegeldach und einen sechseckigen Schornstein hatte. Es hatte nicht die leiseste Ähnlichkeit mit dem Puppenhaus. Die neuen Eigentümer hatten das alte Haus vermutlich abgerissen und am selben Ort ein neues gebaut. Alle Spuren des ursprünglichen Hauses waren getilgt worden, als hätte es hier nie gestanden. »Daniel«, sagte Luke. Ich war nicht sicher, ob uns nicht jemand durch die stummen Fenster beobachtete. »Daniel.« Ich blieb stehen, zögerte unsicher am Rand der Rasenfläche, bevor auch ich mich auf den Weg nach Narragansett machte, von wo aus wir unsere Schritte wieder in die Stadt lenkten.
Am späten Nachmittag hatten wir den Bahnhof erreicht, wo wir ein zweites Mal an diesem Tag in den Zug stiegen. Dieses Mal fuhren wir die ganze Strecke bis zur Penn Station durch. Der widerliche Geruch von Brezeln und abgestandenem Kaffee lag in der Luft, und ein paar wenige Sonntagabend-Spaziergänger liefen umher wie betäubtes Vieh. Sie wirkten blässlich, ihre Gesichter waren haltlos wie dahinschmelzendes Wachs. Ein Soldat im Kampfanzug lehnte an der Wand eines Zeitschriftenkiosks und füllte ein Feld eines Lottoscheins aus. Am Taxistand stritten sich zwei Frauen um ein Taxi, bis die eine der anderen ihren Rollenkoffer gegen den Fuß rammte. »So«, keifte sie, »hier haben Sie, was Sie wollten.«
In unserem Viertel angekommen, empfing uns Victor in der Eingangshalle. Er sagte, dass er Claire seit Freitag nicht mehr gesehen habe, und fragte uns, ob sie verreist sei. Wir hatten keine Ahnung. Der Aufzug arbeitete sich nach oben. Luke schloss die Eingangstür auf, und wir betraten die halbdunkle Diele. Alle Lampen waren aus, die Jalousien heruntergelassen. »Mom?«, rief er. Die Diele und die Küche lagen still und aufgeräumt da und gaben keinen Hinweis preis. In Claires Arbeitszimmer war alles in Ordnung. Nur das Regal, in dem normalerweise die Bücher der Nightingale Press standen, war leer. Die Noh-Masken lagen in einem Haufen auf dem Boden im langen Flur, ihre hervortretenden weißen Augen und die wulstigen grünen Lippen schimmerten im spärlichen Licht. Die Dielenwände schienen mit einer Art Papier bedeckt zu sein. Luke schaltete das Licht an. Das Papier waren Seiten, die aus Büchern herausgerissen und an die Wand geklebt worden waren. Nicht ein Millimeter war zwischen ihnen frei. Eine dieser Seiten sah ich mir genauer an. Oben rechts in der Ecke stand
Die Heimsuchung der Alison Warner
zu lesen. Ein Nightingale-Press-Buch. Die Seiten darum herum waren vier verschiedenen Büchern entnommen, alles Veröffentlichungen der Press. Die losen Ecken der Seiten, die an der Decke befestigt waren, flatterten über unseren Köpfen.
»Mach bitte das Licht aus.«
Claires Stimme kroch unter der Tür am Ende des Flurs hervor und rollte sich zu unseren Füßen auf dem Boden zusammen, wo sie verletzt liegen blieb. »Mom!«, entfuhr es Luke. Er öffnete die Tür zu ihrem Schlafzimmer. Sie lag in ihrem Bett, eine winzige Gestalt unter riesigen Bergen von Decken und Kissen. Sie wandte den Kopf in unsere Richtung. Ihr Gesicht war hell, geisterhaft, ihre riesigen grünen Augen schienen einen Treibstoff zu verbrennen, der irgendwo tief in ihrem Schädel lagerte.
»Du bist also wieder zu Hause«, sagte sie. Ihr Gesicht wirkte fremd.
»Ich war doch nur eine Nacht weg.«
Ich sah mich im Raum um. Schillernde Abendgarderobe und Cocktailkleider lagen auf dem Boden, dem kleinen Sofa und am Fußende ihres Betts verstreut. An einigen hingen noch die Preisschilder. Aus Einkaufstüten von teuren Läden in der Madison Avenue quollen weitere Haufen teurer Kleidungsstücke. Sie sagte: »Ich habe neue Garderobe für den Ball anprobiert.«
»Welcher Ball?«
Sie trug das schwarze Cocktailkleid, das ich als das ihrer Mutter wiedererkannte. Die Tür zu dem begehbaren Kleiderschrank, der den eleganten alten Stücken von Venetia vorbehalten war, stand offen. Samtumhänge, Seidenanzüge und Nerzmäntel.
»Schon gut«, entgegnete sie. »Hast du nach dem Baby gesehen?«
»Wovon sprichst du?«
»Von Baby Claire natürlich. Das arme Ding hat vorhin geweint.«
Sie sah uns an und klemmte ihr Haar hinter die Ohren, was sie auf eine kokette Art tat, die mir bisher nie an ihr aufgefallen war. Es schien, als hätte sich eine ganz zaghafte Verschiebung
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