Der Andere
mitten in ihrem Zimmer auf einem Orientteppich zu plazieren. Luke sollte auf einer Futonmatratze im nüchternen Wohnzimmer schlafen. »Nachts ist es durch den Verkehr ein wenig laut hier«, räumte Cassie ein, »aber wir werden dich so abfüllen, dass du davon gar nichts mitbekommst.« Luke erklärte ihr, dass er Alkohol nicht gut vertrug. Aber das war gelogen, denn in seinem ganzen Leben hatte er noch keinen Alkohol getrunken. Dr. Claymore hatte ihm die Warnung mit auf den Weg gegeben, dass Alkohol zusammen mit seinen Medikamenten »heftige« Nebenwirkungen haben würde, einer der zahlreichen Ratschläge des Seelenklempners, den Luke ausnahmsweise einmal beherzigte. Dabei warf Luke die blauen Pillen nur noch selten ein, so dass ich ihm nahelegte zu überlegen, ob jetzt nicht der richtige Zeitpunkt gekommen wäre, es mit dem Trinken einmal zu probieren. Er sah mich missbilligend an, was mich nicht beunruhigte, denn die Idee war bereits in sein Hirn gepflanzt.
Den Nachmittag verbrachten wir mit der Erkundung des Campus, dieser unendlichen Aneinanderreihung von quadratischen Innenhöfen und rotem Backstein. Mir war nicht klar, was uns dieser Rundgang vermitteln sollte. Junge Leute in Regenmänteln und mit Regenschirmen huschten durch die Nässe. Viele waren mit dem Fahrrad unterwegs. Einige hatten sich vor einem Campus-Labor zusammengefunden und hielten Schilder hoch: »Wir sind alle Tiere«. Regennasse Blätter türmten sich zu schlaffen Haufen auf. Cassie führte uns zur Musik-Bibliothek mit ihren Leuchtstoffröhren und Dutzenden von kleinen Kabinen mit Kopfhörern und Computern. Luke loggte sich in die Datenbank ein und fand Stücke, die ihn zu interessieren schienen. Vermutlich irgendwelche geheimnisvollen minimalistischen Kompositionen. Dann führte sie uns zur eigentlichen Bibliothek. Das Licht war hier etwas gedämpfter, und der Gestank von Formaldehyd erfüllte die Räumlichkeiten. Wir warfen einen Blick in den Eingangsbereich und gingen wieder. In ihrem Mal-Atelier zeigte sie uns Leinwände mit kuhäugigen Mädchen, von scheußlichen Ranken umschlungen. Sie malte in diesem kühlen, hyperrealistischen Stil, der ihre Hervorbringungen wirken ließ wie Stilleben aus noch nicht gedrehten Horrorfilmen. Deswegen war sie auf diese Schule gekommen. Ein noch nicht vollendetes Werk zeigte ein totes Einhorn, das auf einen Jeep gebunden und wegen seines Horns erlegt worden war. »Es geht um Sex«, erklärte sie. Es hatte aufgehört zu regnen, und wir liefen die Thayer Street entlang, vorbei an Headshops, Pizzabuden und Läden für Vintageklamotten. Cassie rauchte die Zigaretten so schnell, wie sie sie drehen konnte. Zurück auf dem Campus waren inzwischen Typen mit Kniestrümpfen und Stirnbändern aufgetaucht, die sich auf dem Rasen Frisbeescheiben zuwarfen.
Die Party an jenem Abend fand im Haus der Examenskandidaten auf der anderen Seite des Campus statt. Wir saßen auf Cassies Bett und zogen uns ein paar Tequilas rein, bevor wir gingen. Luke sah mich an, zuckte kurz die Achseln und kippte sich seinen ersten Tequila hinter die Binde. Ab und zu kam auch einer ihrer Mitbewohner auf einen Schluck herein. Ein Typ mit rotem Bart machte sich an Cassies Stereoanlage zu schaffen. Er legte Funk in einer mörderischen Lautstärke auf und fragte Luke nach Marihuana. »Das ist mein Fast-Bruder«, übertönte Cassie die Musik. Die Bässe vibrierten wie ein überspanntes Seil. »Was?« »Das ist mein Stiefbruder. Er ist zu Besuch.« Der Typ riss seinen Daumen hoch und verließ das Zimmer. Ich beobachtete Luke, wie er sich mit dem Tequila abmühte. Er kämpfte gegen den Geschmack an und kippte ihn runter.
Cassie trug eine Bluse ihrer Highschool-Uniform, bei der sie die Ärmel an den Ellbogen abgeschnitten hatte. Die beiden obersten Knöpfe standen offen. Sie lehnte sich zurück und lachte über irgendetwas, so dass ihre Brüste unter der Bluse bebten. Sie hatte sich umgezogen, trug enge Jeans, die tief auf ihrer Hüfte saßen, und als sie sich wieder nach vorn beugte, erhaschte ich einen Blick auf den Rand ihrer Unterwäsche und die Wölbung ihres Hinterns. Ich fragte mich, ob Luke überhaupt Notiz davon nahm. Aber selbst wenn, ließ es ihn vermutlich kalt. Er war gar nicht in der Lage, ein Mädchen zu erkennen, das seine Aufmerksamkeit wert war, wenn er eines traf. Sie stießen an und stürzten den Tequila hinunter.
»Das ist der dritte«, rechnete Cassie vor. »Verlier bloß nicht den Überblick. Ich bin heute Abend deine
Weitere Kostenlose Bücher