Der Andere
Anstandsdame und habe keine Lust auf einen Anschiss von deiner Mutter, weil dich die Campus-Bullen mit dem Gesicht nach unten in der Gosse aufgegriffen haben.«
»Du lieber Himmel«, stöhnte ich, »gibt es einen Ort, an den uns Claire nicht folgt?«
Cassie riss ihre blauen Augen plötzlich weit auf. »Oh, wie ich dieses Stück liebe!« Aus der Anlage flossen warme, elektronische, schleppende Klings und Klongs. Darüber schwebte eine weibliche Stimme in einer fremden Sprache. »Das ist Isländisch«, bemerkte Cassie. Sie ließ sich zurück in die Kissen fallen und schloss die Augen. »Ist das nicht wunderbar?« Sie lag zwischen Luke und mir, ihr Arm keine drei Zentimeter von meinem entfernt, nah genug, dass ich jedes kleinste Härchen sehen konnte. Ich hob den Arm und legte ihn um ihren Kopf herum über das kastanienbraune Haar, das sie zu einem Knoten aufgesteckt hatte. Meine Hand ruhte auf ihrer anderen Schulter. Meine Finger strichen über ihr Schlüsselbein. Sie bewegte sich leicht, ihre Augen noch immer geschlossen. Mit dem Zeigefinger zeichnete ich die Kontur ihres Kiefers und ihres zarten Ohrläppchens nach. Meine Berührung setzte sich ihren Hals entlang fort, hinunter zu der Kuhle an ihrem Halsansatz und rutschte weiter in das V ihres offenen Shirts. Luke sah mich entsetzt an, tat aber nichts. Plötzlich öffnete Cassie die Augen und sah Lukes versteinertes Gesicht.
»Was ist los?«
»Wie?«, fragte Luke.
Sie fasste sich an die Nase, tätschelte ihre Wange. »Ist irgendwas mit meinem Gesicht?«
»Nein, nein. Alles in Ordnung. Ich war gerade in Gedanken woanders.«
Sie sah ihn einen Augenblick lang an und lächelte dann. »Das ist erlaubt.« Sie stand auf und ging auf die Toilette. Auf dem Weg drehte sie die Lautstärke der Stereoanlage herunter. Luke sah mich böse an. »Lass das«, zischte er. »Lass sie in Ruhe.« Sein Atem roch nach Sprit und kochendem Asphalt. Achselzuckend antwortete ich: »Ich habe doch nichts Schlimmes gemacht, oder?«
Die Party war laut, und die feuchte Wärme menschlicher Körper erfüllte das Haus, das sich zur Seite neigte wie ein sinkendes Schiff. Cassie schleuderte ihre Jacke auf einen Stapel in der Ecke und umarmte ein rothaariges Mädchen im schwarzen Bustier und mit silbrig schimmernder Augenumrandung. »Das ist Luke«, sagte Cassie, »mein kleiner Stiefbruder.« Etwas Wissendes zog in ihrem Blick vorüber und verschwand wieder. Sie zwickte Luke in die Wange. »Fühl dich wie zu Hause, Süßer.« Ein angetrunkener, keuchender Junge nahm Lukes Hand. »Das sind die nächsten vier Jahre deines Lebens.« Er deutete zum Wohnzimmer, das von Möbeln frei und mit Leuten vollgestopft war, die tanzten, tranken und sich anbrüllten, um verstanden zu werden. Ein schlaksiger Junge in Unterwäsche und Pilotensonnenbrille posierte auf dem Treppenabsatz. Unter den Achseln breiteten sich Flecken in der braunen Jacke des blässlichen Jungen aus, und als er sich zu Luke beugte, stellte sich sein Hemd auf und gab den Blick auf seine schweißnasse, hagere und von Tattoos überzogene Brust frei. Cassie zog Luke zur Seite und schob uns in den hinteren Teil des Raums. Sein unkoordinierter Blick war suchend auf einen Bereich irgendwo links von meinem Kopf gerichtet. Ich winkte ihm zu. »Hier drüben bin ich.« »Ja, natürlich«, antwortete er beiläufig und folgte Cassie in die Menge. Sie machte ihm einen Tequila Sunrise an der klebrigen Bar in der Küche und zeigte auf Leute, die es wert waren, dass man sie kannte. Ich fühlte mich beengt und löste den Knoten meiner Krawatte. Im Wohnzimmer rollte jemand eine riesige Discokugel über den Boden und rief: »Ich bin der Größte!« Cassie war irgendwohin verschwunden, und Luke stand allein da, lehnte an der Wand und blickte missgelaunt auf den Boden seines leeren Bechers. Ich fragte, wie er sich fühlte.
»Wie ich mich fühle?« Er sah zu mir hoch und grinste. »Ich fühle mich so, als würde ich mir wünschen, dass du mich in Ruh lässt, und zwar noch in diesem Moment. Warum läufst du nicht Cassie hinterher und siehst, wie weit du bei ihr kommst?« Er hob den Becher an die Lippen und setzte ein überhebliches Grinsen auf.
»Du kleiner Mistkerl«, sagte ich. Woher kam diese Haltung? Ohne nachzudenken, streckte ich meine Hand aus und schnippte gegen den Becherboden. Orangensaft und Grenadine ergossen sich über sein Gesicht und seinen Pulli. Der Becher fiel zu Boden. Luke wischte sich langsam den Mund ab. Ich weiß nicht, wer von uns beiden
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