Der Andere
Vorzeichen echter Veränderung erweisen. Luke verzichtete gänzlich auf den Konsum von Alkohol. Claire, plötzlich von großer Willensstärke, hatte ihre Arbeit im Verlag wieder aufgenommen, und wenn sie zu Hause war, ließ sie das Licht all ihrer Zuneigung ungebrochen über ihrem Sohn erstrahlen. Der Winter kam, und die beiden saßen Abend für Abend am Küchentisch und brüteten über den College-Anmeldungen. Sie steckten ihre Köpfe zusammen bei dem Versuch, das Bild des mustergültigen Luke Nightingale zu Papier zu bringen. (Dies war inzwischen nämlich nicht nur rechtlich, sondern auch praktisch betrachtet sein Name. In »Luke Tomasi-Nightingale« hatte stets etwas Fehlerhaftes mitgeschwungen, als hätte Luke von seinem Vater nichts außer dessen Sarkasmus und dem einen braunen Auge geerbt. An seinem neunzehnten Geburtstag machte der Staat amtlich, was bereits offensichtlich war, die Tomasi-Hälfte wurde gelöscht.) Ich beobachtete sie, während sie am Tisch arbeiteten, das College-Rätsel in meinem Kopf wie in einer verschlossenen Kiste. Wie würde das dort funktionieren? Welche Regeln würden gelten? Die Antworten auf diese Fragen waren mir wichtig, denn dort, endlich weit weg von Claire, würde ich Luke beeinflussen können, stärker als ich es je zuvor vermocht hatte. Es war so erbärmlich, dass ich immer noch auf Dinge wie Einfluss und Überzeugungskraft beschränkt war. Meine Geduld, so unendlich sie auch war, zeigte erste Verfallserscheinungen.
Lukes Abschlussjahr auf der Highschool gestaltete sich für mich als ein Jahr voll scheinbarer Errungenschaften, trügerischer Hoffnung. Als er seinen Abschluss machte, war mein Einfluss auf die Welt genauso gering wie damals, als er mich aus seinem Schädel hinaus in Claires »Nacht des Wahnsinns« katapultiert hatte. Während des Schuljahres unterstützte ich ihn weiter in den Unterrichtsstunden, wenn er mich darum bat. Das Problem war seine Konzentration. Oft war er wirklich nicht dazu zu bewegen, sich um den vorgegebenen Lernstoff zu kümmern. Vielmehr verbrachte er seine Zeit mit Fotografieren, befasste sich mit Manuskripten der Nightingale Press oder sah sich Übertragungen von Footballspielen an. Statt zu lernen, verschwendete er nach der Schule lieber ganze Abende im Conservatory Garden, wo er, mit geschlossenen Augen und Kopfhörern auf dem Kopf in seine blaue Cabanjacke gehüllt, mitten im Winter klassische Musik hörte. Die Aufnahmeprüfung machten wir beide zusammen im Januar. Ich beantwortete eine Frage, Luke übernahm dann die nächste. Wir brauchten nur die Hälfte der Zeit und verpatzten von allen Fragen nur drei – alle Lukes. Mit Hilfe seines Wahlfachs, der Fotografie, kamen wir in dem College unter, in das Luke, von allen, die er annehmbar fand, am allerwenigsten wollte. Im September verabschiedete uns Claire vor dem Apartmenthaus. Sie war zu aufgelöst, um uns hinfahren zu können, also fuhr uns James. Er sagte Luke, dass er stolz auf ihn wäre, aber es diente wohl nur dem Zweck, überhaupt etwas zu sagen. Sein Leben war weitergegangen, Luke und Claire gehörten der Vergangenheit an.
Unser Zimmer im Studentenwohnheim war klein und ekelig. Es war oben in der Ecke einer gotischen Monstrosität untergebracht, die besser ins mittelalterliche Deutschland als in die Vorstädte von New Jersey passte. In den Ecken rotteten sich Staubflocken zusammen, und Schmierstreifen überzogen die Fensterscheiben. Wir teilten uns die Bude mit einem Trottel, der sich als Nate ausgab und dessen Körper wie Hirn nur dürftig bestückt waren. Er hatte Autoposter und Bilder von halbnackten Popsängern in seiner Zimmerhälfte aufgehängt. Lukes Antwort darauf waren zwei Noh-Masken, ein lachender alter Mann und ein grausamer Ahnen-Geist mit Ziegenhörnern und wirren, angstgeweiteten Augen. Wie Auszeichnungen für ein siegreich beendetes Gemetzel hingen sie über seinem Schreibtisch. Nate meinte, er könne manchmal nicht schlafen, weil sie ihn, da sei er sich sicher, anstarrten, während sie unser neuer Freund Richard für wunderbar beunruhigend hielt. Eines Abends im September stand er im Zimmer und strich mit den Händen über das Gesicht des alten Mannes. Er sah Luke an und meinte: »Du bist ein ziemlich durchgeknallter Typ, stimmt’s?«
Aber auch Richard war ziemlich durchgeknallt. Er war zwanzig und gehörte zu den älteren Schülern, die das College für eine Art soziologisches Experiment hielten, an dem er sowohl als Laborratte wie auch als Beobachter teilnahm.
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