Der Angstmacher
Rache!
Sie spielte und starrte den Kollegen an. Er konnte nicht mehr ruhig liegenbleiben, wälzte sich hin und her, atmete röchelnd und mit weit geöffnetem Mund. Die Augen traten ihm aus den Höhlen. Tränen schössen hervor und über seine Wangen.
Und Sally spielte…
Auch ihr Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Er war zu einer häßlichen Eratze geworden. Das Böse malte sich darin ab. Die Saiten der Harfe schlug sie noch schneller an, sie liefen in Wellen, sie bewegten sich wie ein schlichtes Meer, erzeugten Töne und Klänge. Längst spielte sie nicht mehr die Melodie des Volkliedes. Fremde Klänge überwogen. Sie hörten sich orientalisch an, und Jens bekam sie kaum noch mit.
Er konnte nichts mehr unterscheiden, kam sich vor wie in einer Wolke. Die Angst hielt jede Faser seines Körpers fest. Sie konzentrierte sich, und er schaute nach rechts, wo sich die Tür befand, die plötzlich aufgestoßen wurde.
Da stand er dann — der Angstmacher!
Das zur Gestalt gewordene Monstrum, das Böse an sich. Ein grüner, dunkler Schatten, schuppig, leicht glänzend, mit Händen wie Krallen. Viel mehr war nicht zu erkennen, aber Jens spürte sehr deutlich die Strömung, die das Monstrum abgab. So unvorstellbar schlimm und grausam, daß sich bei ihm die Angst noch verstärkte.
Sie wurde zur Todesfurcht…
Das Monstrum kam näher. Ein häßlicher, schwarzer Klumpen, ein unheimliches Gebilde, angefüllt mit dem Grauen einer fremden Welt. Es kam auf ihn zu…
Noch einmal bäumte sich Jens Andersen auf. Das letzte Mal in seinem Leben, dann sackte er zusammen und atmete nicht mehr. Die Bewegungen erschlafften, er war tot.
Sallys Rache hatte wieder voll getroffen…
Auch ihre Musik verklang. Mit einem letzten Akkord ließ sie eine Melodie verrauschen, schaute auf das Monstrum und sah es nicht mehr. Es hatte sich aufgelöst.
Sally senkte den Kopf. Ja, jetzt mußte sich der Geist wieder in den Saiten der Harfe befinden.
Auch sie atmete schneller, denn das Spiel hatte sie ebenfalls angestrengt.
Sie holte einige Male tief Luft, bis sie plötzlich ein Rauschen vernahm, das von unten her durch das offene Fenster brandete. Es war der Beifall, der ihr von den draußen wartenden Kollegen gespendet worden war. Sally ging zum Fenster. Ihre Knie waren wackelig. Sie zeigte sich, beugte sich vor.
»Da ist sie!«
»Bravo. Herrlich! Phantastisch gespielt! Eine wahre Meisterin!« So lauteten die Kommentare der Kollegen. Besonders Gerard Dubois tat sich hervor. Er hatte sich an die Spitze gestellt und wollte nicht mehr aufhören, Beifall zu spenden. »Du bist hervorragend, Sally! Du bist der absolute Wahnsinn, einfach super. Ich gratuliere dir. Himmlisch!«
»Danke, Kinder, danke…«
»Willst du nicht noch zu uns kommen?«
»Nein, Kinder, wirklich nicht. Tut mir das nicht an. Ich bin, ehrlich gesagt, müde.«
»Was ist denn mit Jens?« rief Antja, ein Madchen aus Amsterdam. »Der fehlt uns auch.«
»Ich weiß nicht, wo er ist«, erwiderte Sally und dachte dabei an den Toten auf ihrem Bett.
»Nicht bei dir?«
»Um Himmels willen. Ich habe gespielt. Er war betrunken. Ich glaube, er liegt in seinem Zimmer und schlaft.«
»Das sähe ihm ähnlich.«
»Willst du nicht doch…?«
Sally mußte mitspielen, ob sie wollte oder nicht. »Ja, aber nur eine Viertelstunde.«
»Genau, bis Mitternacht!« rief Anni Beckers.
Sally hob die Hand. »Ich komme.« Bevor sie das Zimmer verließ, warf sie noch einen Blick auf den Toten. Ihn mußte sie noch wegschaffen. Dafür würde sich noch die Zeit ergeben.
Zunächst einmal wurde sie begeistert von ihren Freunden empfangen. Man drückte ihr ein Glas Wein in die Hand, das sie mit einem Zug leerte. Die anderen schauten ihr dabei zu und klatschten kräftig Beifall.
»Du trinkst fast so gut, wie du spielst«, sagte der Junge aus Italien.
»Hör auf.« Sie stellte das Glas weg und schrak, wie auch die übrigen, zusammen, als sie die Stimme des Dirigenten hörte. Niemand hatte seine Rückkehr vernommen.
Plötzlich war er da und fragte mit strenger Stimme: »Was ist denn hier eigentlich los?«
»Wir feiern!« rief Anni übermütig. »Das sehe ich.«
»Wollen Sie auch etwas trinken, Herr Kimmler?«
Der grauhaarige Erwin Kimmler schüttelte fast entsetzt den Kopf. »Um Himmels willen, nicht um diese Zeit. Und auch keinen Alkohol, bitte.«
»Herr Kimmler…«
»Nein, Schluß!« Er bewegte beide Arme, als hätte er einen Dirigentenstab zwischen den Fingern. »Sie werden jetzt auf Ihre Zimmer
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