Der Anruf kam nach Mitternacht
ihre Aufmerksamkeit auf einen älteren Mann, der die Hecke beschnitt.
»Hallo?«, rief sie über den Zaun.
Der alte Mann sah zu ihr herüber.
»Ich suche Geoffrey Fontaine!«, rief sie.
»Ist nicht im Hause, Miss«, kam die Antwort.
Sarahs Hände fingen plötzlich an zu zittern. Also war Geoffrey tatsächlich hier gewesen. Aber warum um Gottes willen?, fragte sie sich. Warum besaß er dieses Haus, das so weit von seiner Arbeitsstätte in London entfernt lag?
»Wo könnte ich ihn finden?«, fragte sie.
»Weiß ich nicht.«
»Wissen Sie, wann er nach Hause kommen wird?«
Der Alte zuckte die Schultern. »Weder er noch seine Frau sagen, wann sie kommen oder gehen.«
»Frau?«, wiederholte sie benommen.
»Tja. Mrs. Fontaine.«
»Sie sprechen doch nicht – von seiner Frau?«
Der Alte sah sie an, als hätte sie keinen Verstand im Kopf. »Je nun«, sagte er langsam, »den Anschein hat es wohl.«
Sarah klammerte sich so heftig am Zaun fest, dass die hölzernen Spitzen sich in ihre Handflächen bohrten. Ein eigenartiges Donnern dröhnte ihr in den Ohren, als schlüge eine Welle über ihr zusammen und risse sie zu Boden. Nervös kramte sie in ihrer Handtasche und zog Geoffreys Fotografie heraus. »Ist dies Mr. Fontaine?«, fragte sie mit belegter Stimme.
»Das ist er, ganz recht.«
Sarah zitterte so sehr, dass sie Mühe hatte, das Bild wieder in ihre Handtasche zurückzustecken. Sie hielt sich am Zaun fest und bemühte sich zu begreifen, was der Alte ihr soeben gesagt hatte. Die unerwartete Nachricht überfiel sie wie ein Schock, und der Schmerz war kaum zu ertragen.
Sie wusste nicht, wie lange sie da zwischen den Ringelblumen gestanden hatte. Erst als der Mann sie zum dritten Male anrief, hörte sie ihn.
»Miss? Miss? Brauchen Sie Hilfe?«
Wie betäubt sah Sarah ihn an. »Nein. Nein, danke, es ist nichts.«
»Wirklich nicht?«
»Ja, ich … Bitte, ich muss die Fontaines sehen.«
»Ich wüsste tatsächlich nicht, wie, Miss. Mrs. Fontaine hat gepackt und ist weg, vor nicht ganz zwei Wochen.«
»Wohin ist sie gefahren?«
»Sie hat keine Adresse hinterlassen.«
Sarah suchte nach einem Zettel und schrieb dann ihren Namen und den des Hotels auf. »Falls sie … falls einer von den beiden wiederkommen sollte, dann richten Sie ihnen doch bitte aus, sie möchten mich umgehend anrufen. Bitte.«
»Nun ja, Miss.« Der Alte faltete den Zettel zusammen, ohne einen Blick darauf zu werfen, und steckte ihn in die Tasche.
Sarah stolperte auf die Straße zurück. Am Anfang der Whitstable Lane bemerkte sie eine Reihe von Briefkästen. Sie schaute verstohlen zum Haus zurück, stellte fest, dass der Alte wieder die Hecke schnitt, und warf einen Blick in den Kasten mit der Nummer fünfundzwanzig. Ein Versandkatalog eines Londoner Kaufhauses lag darin. Er war an Mrs. Eve Fontaine adressiert.
Evie!
Mehr als einmal hatte Geoffrey sie bei diesem Namen genannt. Sarah steckte den Katalog in den Briefkasten zurück. Während sie am Rande der Klippen zum Bahnhof Margates zurückging, liefen ihr die Tränen über die Wangen.
Sechs Stunden später betrat Sarah müde, elend und hungrig ihr Zimmer im Savoy. Das Telefon klingelte.
»Hallo?«, sagte sie.
»Sarah Fontaine?« Es war die Stimme einer Frau, die leise und heiser sprach.
»Ja.«
»Geoffrey hatte ein Muttermal an der linken Schulter. Wie sah es aus?«
»Aber …«
»Wie sah es aus?«
»Es hatte die … es sah wie ein Halbmond aus. Spricht da Eve?«
»Im Lamb and Rose in der Dorset Street. Um neun Uhr.«
»Warten Sie … Eve?«
Es klickte in der Leitung.
Sarah sah auf ihre Uhr. Sie hatte genau eine halbe Stunde, um in die Dorset Street zu kommen.
Im Schankraum des Lamb and Rose knisterte ein Feuer im Kamin. An der Bar aus blank poliertem Mahagoni saßen zwei Männer über ihren Biergläsern. Suchend schaute Sarah sich im Raum um. Nur die junge Kellnerin, die neben der Zapfsäule stand, erwiderte ihren Blick. Wortlos nickte das Mädchen in Richtung des hinteren Teiles des Raumes.
Sarah nickte ebenfalls und ging in die ihr angewiesene Richtung. Etliche mit hölzernen Trennwänden versehene Sitzecken zogen sich an der Wand entlang. Doch noch ehe Sarah bei der letzten ankam, wusste sie, dass Eve darin sitzen würde. Eine dünne Rauchfahne kräuselte sich aus der Sitzecke empor. Die Frau blickte auf, als Sarah sich ihr näherte. Ihre Blicke trafen sich kurz, und dieser eine Blick genügte, um sich gegenseitig zu verstehen. Selbst im Dämmerlicht dieser Kneipe
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