Der Anschlag - King, S: Anschlag
ihr Liebling werden würde. Wie denn auch nicht? Sie war jung, sie war eine Fremde in einem fremden Land, sie war schön. Natürlich war die Schönheit ausgerechnet mit dem Biest verheiratet – einem mürrischen jungen Amerikaner, der sie schlug (schlimm) und leidenschaftlich an ein System glaubte, dass diese Angehörigen des gehobenen Mittelstands ebenso leidenschaftlich ablehnten (weit schlimmer).
Trotzdem würde Lee ihre Lebensmittel akzeptieren, nur hin und wieder von Wutanfällen begleitet, und als sie Möbel brachten – ein neues Bett und für das Baby ein Gitterbettchen in leuchtendem Rosa –, akzeptierte er auch die. Er hoffte, die Russen würden ihm aus dem Loch heraushelfen, in dem er steckte. Aber er mochte sie nicht, und als er im November 1962 mit seiner Familie nach Dallas umzog, musste ihm klar sein, dass seine Gefühle herzlich erwidert wurden. Weshalb sollten sie ihn auch lieben, musste er sich gefragt haben. Er war ideologisch rein. Sie waren Feiglinge, die Mütterchen Russland verlassen hatten, als es 1943 auf den Knien lag, die den Deutschen die Stiefel geleckt hatten und nach Kriegsende in die Vereinigten Staaten geflüchtet waren, wo sie flugs den amerikanischen Lebensstil angenommen hatten … der für Oswald ein säbelrasselnder, Minderheiten unterdrückender, Arbeiter ausbeutender Kryptofaschismus war.
Einen Teil davon wusste ich aus Als Notizen. Das meiste bekam ich auf der Bühne gegenüber zu sehen oder schloss es aus dem einzigen wichtigen Gespräch, das meine verwanzte Lampe aufschnappte und mitschnitt.
10
Am Abend des 25. August, einem Samstag, putzte Marina sich mit einem hübschen, blauen Kleid auf und steckte June in ein Spielhöschen aus Cordsamt mit vorn aufgenähten Blumen. Lee, der sauer dreinblickte, kam in seinem bestimmt einzigen Anzug aus dem Schlafzimmer. Dieser Wollanzug war ein mäßig lächerlicher sackartiger Zweireiher, der nur aus Russland stammen konnte. Der Abend war heiß, und ich stellte mir vor, wie Lee bald in Schweiß gebadet sein würde. Die beiden gingen vorsichtig die Stufen hinunter (die defekte war immer noch nicht repariert worden) und machten sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Ich setzte mich ins Auto und fuhr zur Ecke Mercedes Street und Winscott Road. Ich konnte sehen, wie sie an einem Telefonmast mit dem weißen Streifen standen und sich stritten. Eine echte Überraschung! Der Bus kam. Die Oswalds stiegen ein. Ich folgte ihnen, genau wie ich Frank Dunning in Derry beschattet hatte.
Die Geschichte wiederholt sich war nur eine andere Art zu sagen, dass die Vergangenheit nach Harmonie strebte.
Sie stiegen in einem Wohnviertel im Norden von Dallas aus. Ich hielt an und beobachtete dann, wie sie ein kleines, aber elegantes Tudorhaus aus Fachwerk und Natursteinen betraten. Die Kutschenlampen am Ende des Fußwegs zur Haustür glühten sanft in der Abenddämmerung. Auf diesem Rasen gab es keine Fin gerhirse. Alles hier verkündete: Amerika funktioniert! Marina ging mit June auf dem Arm voran, Lee trottete mit etwas Abstand hinterher und wirkte in seinem zweireihigen Sakko, das ihm hinten bis fast auf die Kniekehlen hing, etwas verloren.
Vor der Haustür schob Marina ihn vor sich hin und wies auf den Klingelknopf. Er drückte ihn. Peter Gregory und sein Sohn kamen heraus, und als June Paul die Arme entgegenstreckte, lachte der junge Mann und nahm sie Marina ab. Als Lee das sah, ließ er die Mundwinkel hängen.
Ein weiterer Mann kam heraus. Ich kannte ihn aus der Gruppe, die am Tag von Pauls erster Russischstunde aufgekreuzt war, auch danach war er noch drei- oder viermal ins Haus der Oswalds gekommen und hatte Lebensmittel oder Spielzeug für June oder beides mitgebracht. Ich wusste ziemlich sicher, dass er George Bouhe hieß (ja, ein weiterer George, die Vergangenheit harmo nisierte auf jede mögliche Weise), und hatte ihn in Verdacht, dass er trotz seiner fast sechzig Jahre ernsthaft in Marina verknallt war.
Nach den Aufzeichnungen des Hamburgerbraters, der mich hier reingeritten hatte, war Bouhe derjenige, der Peter Gregory dazu überredet hatte, zu dieser Kennenlern-Party einzuladen. George de Mohrenschildt war nicht anwesend, aber er würde sehr bald davon hören. Bouhe würde de Mohrenschildt von den Oswalds und ihrer seltsamen Ehe erzählen. Er würde ihm auch berichten, dass Lee auf der Party eine Szene gemacht hatte, als er den Sozialismus und die russischen Kolchosen gelobt hatte. Der junge Mann kommt mir übergeschnappt vor, würde
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