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Der Anschlag - King, S: Anschlag

Der Anschlag - King, S: Anschlag

Titel: Der Anschlag - King, S: Anschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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–, und verlor. Nichts war so faszinierend wie ein Familienstreit – das hat Leo Tolstoi gesagt, glaube ich. Oder vielleicht auch Jonathan Franzen. Bis ich das Gerät eingeschaltet und aus meinem offenen Fenster auf das offene Fenster gegenüber gerichtet hatte, war der Streit in vollem Gang.
    »… gewollt hätte, dass du weißt, wo wir sind, hätte ich’s dir gesagt, verdammt noch mal!«
    »Vada hat’s mir erzählt, sie ist ein gutes Mädchen«, sagte Marguerite gelassen. Lees Zorn perlte von ihr ab wie ein leichter Sommerschauer. Mit der Behändigkeit eines Kartengebers beim Black Jack stellte sie nicht zusammenpassende Schalen auf die Arbeitsplatte. Marina beobachtete sie sichtlich verblüfft. Die Puppenstube stand auf dem Fußboden neben Junes Babydecke. Die strampelnde Kleine ignorierte es. Natürlich tat sie das. Was sollte ein vier Monate altes Baby mit einer Puppenstube?
    »Ma, du musst uns in Ruhe lassen! Du musst aufhören, Sachen anzuschleppen! Ich kann selbst für meine Familie sorgen!«
    Auch Marina versuchte sich einzubringen. »Mamotschka, Lee sagen nein.«
    Marguerite lachte fröhlich. »›Lee sagen nein, Lee sagen nein.‹ Schätzchen, Lee sagt immer nein, das hat dieser kleine Mann sein Leben lang getan, und es hat nichts zu bedeuten. Ma kümmert sich um ihn.« Sie kniff ihn in die Wange, wie es eine Mutter bei einem Sechsjährigen tun würde, der etwas Unartiges, aber unzweifelhaft Niedliches getan hatte. Hätte Marina das versucht, hätte Lee ihr garantiert den Schädel eingeschlagen.
    Irgendwann waren die drei Springseilmädchen auf den dürftigen Ersatz für einen Rasen gekommen. Sie verfolgten die Auseinandersetzung so aufmerksam, wie Stammbesucher des Globe Theatre das neueste Shakespeare-Stück von den Stehplätzen aus verfolgten. Nur würde in dem Stück, das sie sahen, die Widerspenstige Siegerin bleiben.
    »Was hat sie dir zum Abendessen gemacht, Schatz? War es gut?«
    »Es gab Schmortopf. Scharkoje. Dieser Gregory hat uns ein paar ShopRite-Gutscheine geschickt.« Sein Kiefer mahlte. Marguerite wartete. »Möchtest du etwas davon, Ma?«
    » Scharkoje sehr okay, Mamotschka«, sagte Marina hoffnungsvoll lächelnd.
    »Nein, so was könnte ich nicht essen«, sagte Marguerite.
    »Teufel, Ma, du weißt nicht mal, was das ist!«
    Sie ignorierte seinen Einwand. »Damit würde ich mir den Magen verderben. Außerdem will ich nicht nach acht Uhr in einem städtischen Bus sitzen. In denen sind nach acht Uhr zu viele betrunkene Männer. Lee, Schatz, du musst die Treppenstufe reparieren, bevor sich jemand ein Bein bricht.«
    Er murmelte etwas, aber Marguerites Aufmerksamkeit galt nicht mehr ihm. Sie stürzte sich auf das Baby wie ein Habicht auf eine Feldmaus und krallte sich June. Durch mein Fernrohr war der erschrockene Gesichtsausdruck der Kleinen unverkennbar.
    »Wie geht’s meiner kleinen SÜSSEN heut Abend? Wie geht’s meinem SCHNUCKELCHEN? Wie geht’s meiner kleinen DEWUSCHKA? «
    Ihre kleine dewuschka, die sich vor Angst fast in die Windeln machte, begann gellend laut zu kreischen.
    Lee machte eine Bewegung, wie um ihr das Baby abzunehmen. Marguerite zog ihre roten Lippen zurück und ließ ihre Zähne sehen, was ein Grinsen sein konnte – aber nur bei großzügiger Auslegung. Ich fand, dass es eher wie ein Zähnefletschen aussah. Das schien auch ihr Sohn zu finden, jedenfalls ging er auf Abstand. Marina biss sich mit vor Verzweiflung geweiteten Augen auf die Unterlippe.
    »Ooooh, Junie! Junie-Moonie- SPOONIE! «
    Marguerite marschierte auf dem abgetretenen, grünen Teppich hin und her und ignorierte Junes zunehmend verzweifeltes Heulen ebenso, wie sie Lees Zorn ignoriert hatte. Ließ dieses Heulen sie aufleben? Diesen Eindruck hatte ich. Nach einiger Zeit konnte Marina das nicht länger ertragen. Sie stand auf und ging auf Marguerite zu. Marguerite aber dampfte von ihr weg, wobei sie die Kleine an ihre Brust drückte. Selbst auf der anderen Straßenseite konnte ich mir das Geräusch vorstellen, das ihre großen, weißen Schwesternschuhe machten: poch, stampf, poch. Marina ging ihr hinterher. Marguerite, vielleicht in dem Bewusstsein, sich durchgesetzt zu haben, überließ ihr endlich das Baby. Sie zeigte auf Lee, dann redete sie mit ihrer lauten Lehrerinnenstimme auf Marina ein.
    »Als ihr bei mir gewohnt habt … hat er zugenommen … weil ich ihm … alles gekocht habe, was er GERN ISST … aber er ist trotzdem noch ZU … VERDAMMT … MAGER! «
    Marina starrte sie über Junes Kopf

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