Der Anschlag - King, S: Anschlag
mir den Buckel runterrutschen! Ich will mir ein Kleinkalibergewehr verdienen! Mein Dad sagt, dass ich eins haben darf.«
»Mein Sohn, weißt du, dass du ausgebeutet wirst?«
»Hä?«
»Sie nehmen die Dimes. Du kriegst ein paar Cent und die Aussicht auf ein Gewehr.«
»Lee, er netter Junge«, sagte Marina. »Sei nett. Lass in Ruhe.«
Lee ignorierte sie. »Du solltest wissen, was in diesem Buch steht, mein Sohn. Kannst du den Titel lesen?«
»O ja, Sir. Hier steht: Die Lage der Arbeiterklasse von Friiiedrik … Ing-gulls?«
»Engels. Er schreibt darüber, was mit den Jungen passiert, die glauben, durch Haus-zu-Haus-Verkäufe Millionäre werden zu können.«
»Ich will kein Millionär nich werden«, protestierte der Junge. »Ich will bloß ein Kaliber .22, damit ich auf der Müllhalde Ratten abschießen kann wie mein Freund Hank.«
»Du verdienst ein paar Cent durch den Verkauf ihrer Zeitungen; sie verdienen jede Menge Dollar, indem sie deinen Schweiß und den von einer Million Jungen wie dir verkaufen. Der freie Markt ist nicht frei. Du musst dich weiterbilden, mein Sohn. Ich hab’s getan, und angefangen damit hab ich in deinem Alter.«
Lee hielt dem Grit -Zeitungsjungen einen Zehnminutenvortrag über die Übel des Kapitalismus – mitsamt ausgewählten Karl-Marx-Zitaten. Der Junge hörte geduldig zu, dann fragte er: »Nehmen Sie also jetzt ein Ab-Bonne-ment?«
»Mein Sohn, hast du ein einziges Wort von dem verstanden, was ich gesagt habe?«
»Ja, Sir!«
»Dann solltest du wissen, dass dieses System mich bestohlen hat, genau wie es dich und deine Angehörigen bestiehlt.«
»Sie sind blank? Warum haben Sie das nicht gesagt?«
»Ich habe dir zu erklären versucht, warum ich mittellos bin.«
»Ach, Mann! Ich hätt noch drei Häuser abklappern können, aber jetzt muss ich heim, weil ich nicht mehr lange Ausgang hab.«
»Alles Gute!«, sagte Marina.
Die Haustür ging in ihren alten Angeln quietschend auf; dann schloss sie sich rumpelnd (sie war zu müde, um zu knallen). Danach herrschte langes Schweigen, bis Lee ausdruckslos sagte: »Siehst du? Dagegen haben wir anzukämpfen.«
Wenig später ging die Lampe aus.
13
Mein neu installiertes Telefon blieb die meiste Zeit stumm. Deke rief noch einmal an – einer dieser kurzen Wie-geht’s-Pflichtanrufe –, aber das war alles. Ich sagte mir, dass ich nicht mehr erwarten dürfe. Die Schule hatte wieder begonnen, und die ersten paar Wochen waren immer chaotisch. Deke hatte zu tun, weil Miz Ellie ihn aus dem Ruhestand geholt hatte. Er erzählte mir, dass er ihr nach einigem Murren erlaubt hatte, seinen Namen auf die Aushilfsliste zu setzen. Ellie rief nicht an, weil sie fünftausend Dinge tun und wahrscheinlich fünfhundert kleine Buschfeuer austreten musste.
Erst nachdem er aufgelegt hatte, merkte ich, dass er Sadie nicht erwähnt hatte … und zwei Abende nach dem Besuch des Zeitungsjungen bei Lee wurde mir klar, dass ich mit ihr reden musste. Ich musste ihre Stimme hören, selbst wenn sie vielleicht nur sagte: Bitte ruf mich nicht wieder an, George, es ist aus.
Als ich nach dem Hörer griff, klingelte das Telefon. Ich nahm den Hörer ab und sagte mit völliger Gewissheit: »Hallo, Sadie. Hallo, Schatz.«
14
Das Schweigen am anderen Ende dauerte so lange, dass ich schon dachte, ich hätte mich geirrt und dass jemand gleich sagen würde: Ich bin nicht Sadie, ich bin nur ein Blödmann, der sich verwählt hat. Dann sagte sie: »Woher hast du gewusst, dass ich es bin?«
Ich hätte fast Harmonie gesagt, was sie vielleicht verstanden hätte. Aber vielleicht war nicht gut genug. Dieser Anruf war mir wichtig, ich wollte ihn nicht vermasseln. Unter gar keinen Umständen. Während des nun folgenden Gesprächs waren die meiste Zeit zwei Versionen von mir am Telefon: George, der laut sprach, und Jake in meinem Inneren, der alles sagte, was George nicht aussprechen durfte. Vielleicht waren immer zwei auf jeder Seite eines Gesprächs gegenwärtig, wenn eine gute Beziehung auf dem Spiel stand.
»Weil ich den ganzen Tag an dich gedacht habe«, sagte ich. (Ich habe den ganzen Sommer an dich gedacht.)
»Wie geht’s dir?«
»Danke, gut. (Ich bin einsam.) Und was ist mir dir? Wie war dein Sommer? Hat alles geklappt?« (Bist du endlich von deinem un heimlichen Mann geschieden?)
»Ja«, sagte sie. »Alles paletti. Das ist doch einer deiner Ausdrücke, George? Alles paletti?«
»Schon möglich. Wie geht’s in der Schule? In der Bibliothek?«
»George? Wollen wir so
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