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Der Anschlag - King, S: Anschlag

Der Anschlag - King, S: Anschlag

Titel: Der Anschlag - King, S: Anschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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hinweg an; ihre hübschen Augen waren angstvoll geweitet. Marguerite verdrehte ihre aus Ungeduld oder reiner Verachtung und brachte ihren Kopf dicht an Marinas heran. Die Schiefe Lampe von Pisa war eingeschaltet, und ihr Licht spiegelte sich in den Gläsern von Marguerites Katzenaugenbrille.
    » KOCH IHM … WAS ER MAG! KEINE … SAURE … SAHNE! KEINEN … JOGHURT! ER … IST … ZU … MAGER! «
    »Maager«, wiederholte Martina zweifelnd. June fühlte sich in den Armen ihrer Mutter anscheinend sicher, denn ihr Weinen flaute zu einem wässrigen Hicksen ab.
    »Ja!«, sagte Marguerite. Sie drehte sich ruckartig zu Lee um. »Reparier diese Stufe!«
    Dann ging sie und nahm sich zuvor nur noch die Zeit, ihrer Enkelin kräftig auf den Hinterkopf zu klatschen. Als sie zur Bushaltestelle zurückmarschierte, lächelte sie tatsächlich. Sie sah jünger aus.
    8
    Am Morgen nach dem Tag, an dem Marguerite die Puppenstube mitgebracht hatte, war ich um sechs auf den Beinen. Ich trat an die Vorhänge und sah durch den Spalt hinaus, ohne auch nur darüber nachzudenken – die Bespitzelung des Hauses gegenüber war mir zur Gewohnheit geworden. Marina saß eine Zigarette rauchend in einem der Gartensessel. Sie trug einen rosa Schlaf anzug aus Kunstseide, der ihr viel zu groß war. Sie hatte ein frisches blaues Auge, und auf ihrer Pyjamajacke waren Blutflecken zu sehen. Sie rauchte langsam, inhalierte tief und starrte ins Leere.
    Einige Zeit später ging sie hinein und machte Frühstück. Bald darauf kam Lee und aß es. Er sah sie dabei nicht an. Er las ein Buch.
    9
    Dieser Gregory hat uns ein paar ShopRite-Gutscheine geschickt, hatte Lee seiner Mutter erzählt, vielleicht als Erklärung für das Fleisch im Eintopf, vielleicht auch nur, um ihr zu demonstrieren, dass Marina und er in Fort Worth nicht allein und ohne Freunde waren. Mamotschka schien das nicht registriert zu haben, aber ich registrierte es sehr wohl. Peter Gregory war das erste Glied in der Kette von Ereignissen, die George de Mohrenschildt in die Mercedes Street führen würde.
    Wie de Mohrenschildt war Gregory ein im Exil lebender Russe im Erdölgeschäft. Er stammte aus Sibirien und unterrichtete einmal in der Woche Russisch in der Fort Worth Library. Als Lee das herausfand, bat er um ein Gespräch, um sich zu erkundigen, ob er, Lee, vielleicht als Übersetzer arbeiten könne. Gregory prüfte seine Russischkenntnisse und fand sie »passabel«. Wofür Gregory sich wirklich interessierte – wofür sich alle Exilrussen interessierten, wie Lee vermuten musste –, war die ehemalige Marina Prusakowa, eine junge Frau aus Minsk, die es irgendwie geschafft hatte, aus den Klauen des russischen Bären zu entkommen, nur um in die eines amerikanischen Rüpels zu geraten.
    Lee bekam den Job nicht; Gregory engagierte an seiner Stelle Marina, damit sie seinem Sohn Paul Russischunterricht gab. Das bedeutete Geld, das die Oswalds bitter nötig hatten. Und es bedeutete auch wieder etwas, worüber Lee sich ärgern konnte. Marina unterrichtete zweimal in der Woche einen reichen Balg, während er weiter Windfangtüren zusammenschrauben musste.
    An dem Morgen, an dem ich Marina beim Rauchen auf der Veranda beobachtet hatte, fuhr Paul Gregory, gut aussehend und etwa in Marinas Alter, mit einem brandneuen Buick vor. Er klopfte an, und Marina – deren dickes Make-up mich an Bobbi Jill denken ließ – machte ihm auf. Aus Rücksicht auf Lees tyrannische Liebe oder weil die in ihrem Heimatland gelernten Anstandsregeln das erforderten, unterrichtete sie ihn auf der Veranda. Der Unterricht dauerte eineinhalb Stunden. June lag zwischen ihnen auf ihrer Decke, und wenn sie weinte, wechselten die beiden sich damit ab, sie auf den Arm zu nehmen. Es war eine hübsche kleine Szene, auch wenn Mr. Oswald das vermutlich nicht gefunden hätte.
    Gegen Mittag hielt Pauls Vater hinter dem Buick. Begleitet wurde er von zwei Männern und zwei Frauen. Sie brachten Lebensmittel mit. Der ältere Gregory umarmte seinen Sohn, dann küsste er Marina auf die Wange (auf die nicht geschwollene). Es wurde viel russisch gesprochen. Der jüngere Gregory verstand nicht viel, aber Marina lebte sichtlich auf und strahlte wie eine Leuchtreklame. Sie lud alle ins Haus ein. Bald saßen sie im Wohnzimmer, tranken Eistee und unterhielten sich. Marinas Hände flatterten wie aufgeregte Vögel. June wanderte von Arm zu Arm, von Schoß zu Schoß.
    Ich war fasziniert. Die russische Emigrantengemeinde hatte die Kindfrau gefunden, die

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