Der Anschlag - King, S: Anschlag
nüchterne Feststellung.
»Ich bin auf der Suche nach einer Wohnung in dieser Gegend. Werden Sie die hier behalten?«
»Nein«, sagte die Jüngere. »Er hatte ’ne Ver -sicherung. Ungefähr das Einzige, was er hatte. Außer ein paar Orden in ’ner Zigarrenkiste.« Sie schniefte. Ich kann versichern, dass es mir fast das Herz brach, mit ansehen zu müssen, wie untröstlich diese beiden Frauen waren.
»Er hat gesagt, dass Sie ’n Gespenst sind«, sagte die Witwe zu mir. »Er hat gesagt, dass er glatt durch Sie durchsehn kann. ’türlich war er verrückt wie ’ne Scheißhausmaus. In den letzten drei Jahren, seit er den Schlaganfall hatte und diesen Pissebeutel gekriegt hat. Ich und Ida gehn zurück nach Oklahoma.«
Versucht es mit Mozelle, dachte ich. Da werdet ihr landen, wenn ihr eure Wohnung aufgebt.
»Was wolln Sie?«, fragte die Jüngere. »Wir müssen ihm ’nen Anzug ins Beerdigungsinstitut bringen.«
»Die Telefonnummer Ihres Vermieters«, sagte ich.
Die Augen der Witwe glitzerten. »Wie viel ist Ihnen die wert, Mister?«
»Ich geb sie Ihnen umsonst!«, sagte die junge Frau auf dem Balkon im ersten Stock.
Die trauernde Tochter sah zu ihr hinauf und forderte sie auf, ihre verfluchte Fresse zu halten. Das war typisch für Dallas. Auch für Derry.
Gutnachbarlich.
Kapitel 19
KAPITEL 19
1
George de Mohrenschildt hatte seinen großen Auftritt am Nachmittag des 15. September, einem düsteren und regnerischen Samstag. Er fuhr in einem kaffeefarbenen Cadillac vor, der direkt aus einem Chuck-Berry-Song hätte stammen können. Begleitet wurde er von einem Mann, den ich kannte, George Bouhe, und einem, den ich nicht kannte – einer hageren Bohnenstange mit schütterem, weißem Haar und der kerzengeraden Haltung eines Mannes, der lange Jahre beim Militär war und immer noch glücklich darüber war. De Mohrenschildt ging um den Wagen herum und öffnete den Kofferraum. Ich beeilte mich, das Richtmikrofon zu holen.
Als ich mit dem Gerät zurückkam, hatte Bouhe einen zusammengeklappten Laufstall unter dem Arm, und der militärisch aussehende Kerl hatte einen Arm voll Spielzeug. De Mohrenschildt, der nichts trug, stieg erhobenen Hauptes und mit herausgestreckter Brust vor den beiden anderen die Stufen hinauf. Er war groß und kräftig gebaut. Seine ergrauenden Haare waren auf eine Weise schräg aus seiner breiten Stirn zurückgekämmt, die – zumindest mir – sagte: Seht meine Werke, Mächt’ge, und erbebt! Denn ich bin GEORGE .
Ich schaltete das Bandgerät ein, setzte meinen Kopfhörer auf und zielte mit dem Richtmikrofon über die Straße.
Marina war nirgends zu sehen. Lee saß auf der Couch und las im Licht der Lampe auf der Kommode ein dickes Taschenbuch. Als er Schritte auf der Veranda hörte, sah er stirnrunzelnd auf und warf das Buch auf den Couchtisch. Noch mehr gottverdammte Exilrussen, dachte er vielleicht.
Aber er ging zur Haustür, um sie hereinzulassen. Er streckte dem weißhaarigen Unbekannten auf der Veranda die Hand hin, aber de Mohrenschildt überraschte ihn – und mich –, indem er Lee an sich zog und auf beide Wangen küsste. Dann hielt er ihn mit ausgestreckten Armen an den Schultern. Er sprach mit tiefer Stimme und einem Akzent, der eher deutsch als russisch klang, wie ich fand. »Lassen Sie mich den jungen Mann ansehen, der so weit gereist und mit heilen Idealen zurückgekehrt ist.« Dann zog er Lee in eine weitere Umarmung. Oswalds Kopf war gerade noch über der Schulter des größeren Mannes sichtbar, und ich sah etwas, was noch überraschender war: Lee Harvey Oswald lächelte.
2
Marina kam mit June auf dem Arm aus dem Kinderzimmer. Als sie Bouhe sah, stieß sie einen kleinen Freudenschrei aus und bedankte sich für den Laufstall und das »Kinderspielesachen«, wie sie in ihrer Version der für sie noch neuen Sprache sagte. Bouhe stellte ihr den mageren Mann als Lawrence Orlov – Colonel Lawrence Orlov, bitte schön – und de Mohrenschildt als einen Freund der russischen Gemeinde vor.
Bouhe und Orlov machten sich daran, den Laufstall mitten im Raum aufzubauen. Marina stand bei ihnen und plauderte auf russisch. Wie Bouhe war Orlov anscheinend außerstande, die junge russische Mutter aus den Augen zu lassen. Marina trug ein Babydoll-Oberteil und Shorts, die ihre endlos langen Beine betonten. Lees Lächeln war verschwunden. Er zog sich in seine gewohnte Trübseligkeit zurück.
Nur ließ de Mohrenschildt das nicht zu. Er entdeckte Lees Taschenbuch, trat rasch an den
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