Der Anschlag - King, S: Anschlag
Couchtisch und griff danach. »Atlas wirft die Welt ab?« Er sprach nur mit Lee, die anderen, die den neuen Laufstall bewunderten, ignorierte er vollständig. »Ayn Rand? Was tut ein junger Revolutionär damit? «
»Kenne deinen Feind«, sagte Lee, und als de Mohrenschildt in herzhaftes Lachen ausbrach, kehrte auch Lees Lächeln zurück.
»Und was halten Sie von Miss Rands verzweifeltem Aufschrei?« Das kam mir irgendwie bekannt vor, als ich die Aufnahme ab spielte. Ich hörte mir die Stelle zweimal an, bevor es klickte: Genau diesen Ausdruck hatte Mimi Corcoran benutzt, als sie mich nach Der Fänger im Roggen gefragt hatte.
»Ich denke, dass sie den vergifteten Köder geschluckt hat«, sagte Oswald. »Und jetzt verdient sie daran, ihn anderen Leuten zu verkaufen.«
»Genau, mein Freund. Besser hat das noch nie jemand ausge drückt. Aber der Tag wird kommen, an dem die Rands dieser Welt sich wegen ihrer Verbrechen verantworten müssen. Glauben Sie nicht auch?«
»Ich weiß es«, sagte Lee. Er sprach ganz nüchtern.
De Mohrenschildt klopfte mit einer flachen Hand auf die Couch. »Setzen Sie sich zu mir. Ich möchte von Ihren Abenteuern in der alten Heimat hören.«
Bouhe und Orlov kamen zu Lee und de Mohrenschildt und begannen eine längere Diskussion auf russisch. Lee machte ein zweifelndes Gesicht, aber als de Mohrenschildt etwas zu ihm sagte – ebenfalls auf russisch –, nickte er und sprach kurz mit Marina. Seine knappe Handbewegung in Richtung Tür sagte alles: Los, geh schon, geh.
De Mohrenschildt warf seine Autoschlüssel Bouhe zu, der sie aber fallen ließ. Lee und de Mohrenschildt wechselten einen amüsierten Blick, als Bouhe sie vom schmutzigen, grünen Teppich aufhob. Dann gingen sie, Marina mit der Kleinen auf dem Arm, und fuhren mit de Mohrenschildts protzigem Straßenkreuzer davon.
»Nun haben wir Ruhe, mein Freund«, sagte de Mohrenschildt. »Und die Männer werden ihre Geldbörsen öffnen, was gut ist, ja?«
»Ich hab’s satt, dass sie dauernd ihre Geldbörsen öffnen«, sagte Lee. »Rina vergisst allmählich, dass wir nicht nach Amerika zurückgekommen sind, bloß um ’ne gottverdammte Tiefkühltruhe und einen Haufen Kleider zu kaufen.«
De Mohrenschildt winkte ab. »Die Kapitalisten sollen ruhig etwas bluten. Reicht es nicht, Mann, dass ihr in diesem deprimierenden Loch haust?«
»Es ist echt nichts Besonderes, was?«, sagte Lee.
De Mohrenschildt schlug ihm so kräftig auf den Rücken, dass der kleinere Mann fast von der Couch kippte. »Kopf hoch! Was du heute einsteckst, gibst du später tausendfach zurück. Daran glaubst du doch, oder?« Und als Lee nickte: »Erzähl mir jetzt, wie die Dinge in Russland stehen, Genosse … darf ich dich Genosse nennen, oder hast du diese Form der Anrede abgelegt?«
»Sie dürfen mich nennen, wie Sie wollen«, sagte Oswald lachend. Ich konnte sehen, dass er sich de Mohrenschildt öffnete, wie sich eine Blume nach langen Regentagen der Sonne öffnete.
Lee sprach über Russland. Er drückte sich langatmig und schwülstig aus. Seine scharfe Kritik an der kommunistischen Bürokratie, die alle wundervollen sozialistischen Vorkriegsideale des Landes korrumpiert habe (Stalins Große Säuberung in den Drei ßigerjahren blieb unerwähnt), interessierte mich nicht sonderlich. Ebenso wenig sein Urteil, Nikita Chruschtschow sei ein Idiot; denselben Scheiß über amerikanische Spitzenpolitiker konnte man hierzulande bei jedem Friseur oder Schuhputzer hören. Oswald, der in nur vierzehn Monaten die Weltgeschichte verändern würde, war ein Langweiler.
Was mich interessierte, war die Art, wie de Mohrenschildt zuhörte. Das machte er, wie es alle charmanten und unwiderstehlichen Männer taten: Er stellte immer zur rechten Zeit die richtigen Fragen, zappelte nicht herum oder wich dem Blick seines Gegenübers aus und vermittelte dem anderen Kerl das Gefühl, der klügste, brillanteste und intellektuellste Kopf der Welt zu sein. Für Lee war dies vielleicht das erste Mal im Leben, dass ihm jemand so zuhörte.
»Für den Sozialismus sehe ich nur eine Hoffnung«, schloss Lee. »Und die heißt Kuba. Dort ist die Revolution noch rein. Dort möchte ich eines Tages hin. Vielleicht lasse ich mich sogar einbürgern.«
George de Mohrenschildt nickte ernst. »Du könntest es weit schlechter treffen. Ich war viele Male dort, bevor die jetzige Regierung Kuba-Reisen erschwert hat. Ein schönes Land … und heute dank Fidel ein schönes Land, das den Menschen gehört, die dort
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