Der Anschlag - King, S: Anschlag
… aber dann hatte sie ihn wieder verlassen. Ich hörte mehrere anerkennende Kommentare darüber, wie Kennedy den bösen russischen Bären zum Rückzug gezwungen hatte.
Gegen neun Uhr, während eines langsamen Tanzes, schrie Sadie plötzlich auf und riss sich von mir los. Ich glaubte zu wissen, dass sie John Clayton entdeckt hatte, und fühlte mein Herz bis zum Hals schlagen. Aber es war ein freudiger Aufschrei gewesen, weil die beiden neuen Gäste, die sie entdeckt hatte, Mike Coslaw – der in seinem Tweedsakko unglaublich gut aussah – und Bobbi Jill Allnut waren. Sadie lief auf sie zu … und stolperte über irgendjemandes Fuß. Mike fing sie auf und schwenkte sie im Kreis. Bobbi Jill winkte mir leicht schüchtern zu.
Ich schüttelte Mike die Hand und küsste Bobbi Jill auf die Wange. Die entstellende Narbe war nur noch eine dünne, rosa Linie. »Der Arzt sagt, dass sie bis zum Sommer völlig verschwindet«, berichtete sie. »Er sagt, dass ich seine am schnellsten gesundende Patientin bin. Alles dank Ihnen.«
»Ich habe eine Rolle in Tod eines Handlungsreisenden, Mr. A.«, sagte Mike. »Ich spiele den Biff.«
»Typgerecht«, sagte ich. »Nimm dich bloß vor fliegenden Torten in Acht.«
In einer der Tanzpausen sah ich ihn mit dem Bandleader reden und wusste genau, was kommen würde. Als die Musiker wieder aufs Podium kamen, sagte der Sänger: »Wir erfüllen jetzt einen besonderen Wunsch. Sind George Amberson und Sadie Dunhill im Saal? George und Sadie? Kommt nach vorn, George und Sadie, hoch vom Stuhl und auf die Beine!«
Wir gingen unter stürmischem Beifall nach vorn zum Musikpodium. Sadie lachte und war heftig errötet. Sie drohte Mike mit der Faust. Er grinste nur. Das Jungenhafte verließ sein Gesicht; allmählich zeigte sich der Mann. Noch etwas schüchtern, aber unaufhaltsam. Der Sänger zählte ein, und die Blechbläser legten mit der Einleitung los, die ich noch heute manchmal im Traum höre.
Bah-dah-dah … bah-dah-da-die-dam …
Ich streckte ihr die Hände hin. Sie schüttelte den Kopf, wiegte sich aber trotzdem leicht in den Hüften.
»Schnappen Sie sich ihn, Miss Sadie!«, rief Bobbi Jill. »Zeigen Sie’s uns!«
Sie gab nach und ergriff meine Hände. Wir tanzten.
4
Um Mitternacht spielte die Band »Auld Lang Syne« – anders arrangiert als beim letzten Mal, aber das gleiche wehmütige Lied –, und die Ballons kamen herabgeschwebt. Um uns herum umarmten und küssten sich alle Paare. Das taten auch wir.
»Glückliches neues Jahr, G…« Sie wich stirnrunzelnd einen halben Schritt von mir zurück. »Was hast du?«
Vor meinem inneren Auge stand plötzlich das Texas School Book Depository, ein hässlicher Klinkerkasten mit Fenstern wie Augen. Es war das Jahr angebrochen, in dem das Schulbuchlager ein geschichtsträchtiger Ort werden würde.
Das wird es nicht. So weit lasse ich dich nicht kommen, Lee. Du gelangst nie an dieses Fenster im fünften Stock. Das ist mein guter Vorsatz.
»George?«
»Ich war nur kurz woanders«, sagte ich. »Glückliches neues Jahr.«
Ich wollte sie küssen, aber sie hielt mich noch einen Augenblick von sich weg. »Es ist bald so weit, oder? Wofür du hergekommen bist.«
»Ja«, sagte ich. »Aber nicht heute Nacht. Heute Nacht gibt es nur uns. Also küss mich, Schatz. Und tanze mit mir.«
5
Ende 1962 und Anfang 1963 führte ich zwei Leben. Das gute in Jodie und im Candlewood in Kileen. Das andere in Dallas, einer Stadt, die mich immer mehr an Derry erinnerte.
Lee und Marina zogen wieder zusammen. Ihre erste Behausung in Dallas war ein Loch gleich um die Ecke bei der West Neely Street. De Mohrenschildt half ihnen beim Einzug. George Bouhe war nirgends zu sehen. Auch von den übrigen russischen Emigran ten ließ sich keiner blicken. Lee hatte sie alle vergrault. Sie haben ihn gehasst, hatte Al in seinen Notizen geschrieben; darunter hatte er angefügt: Er wollte das so haben.
Der heruntergekommene Klinkerbau Elsbeth Street 604 war in vier oder fünf Wohnungen aufgeteilt worden, in denen es von armen Leuten wimmelte, die hart arbeiteten, viel tranken und Horden von rotznäsigen, schreienden Kindern hatten. Dieser Wohn bunker ließ sogar das Haus der Oswalds in Fort Worth noch gut aussehen.
Ich brauchte keine elektronischen Hilfsmittel, um den allmählichen Niedergang ihrer Ehe zu konstatieren. Auch als das Wetter kühl wurde, trug Marina weiter Shorts, als wollte sie ihn mit ihren blauen Flecken verspotten. Und natürlich mit ihrem Sex-Appeal. June saß
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