Der Anschlag - King, S: Anschlag
meistens in ihrem Sportwagen zwischen ihnen. Wenn die beiden sich anbrüllten, weinte sie nicht mehr so viel; sie saß nur da und lutschte am Daumen oder an einem Schnuller.
Als ich an einem Tag im November 1962 aus der Bibliothek zurückkam, sah ich Lee und Marina, die sich an der Ecke West Neely und Elsbeth Street lautstark stritten. Mehrere Leute (um diese Tageszeit vor allem Frauen) waren auf ihre Balkons getreten, um zuzuhören. June saß in eine flauschige, rosa Decke gehüllt in ihrem Sportwagen: still und vergessen.
Die beiden stritten sich auf russisch, aber das neueste Streitobjekt war klar, wenn man Lees zustoßenden Zeigefinger beobachtete. Marina trug einen geraden, schwarzen Rock – ich weiß nicht, ob sie damals Bleistiftröcke genannt wurden oder nicht –, und der Reißverschluss an ihrer linken Hüfte war halb offen. Vermutlich hatte er sich nur im Stoff verhakt, aber wenn man Lee toben hörte, war er wohl der Ansicht, dass sie damit auf Männerfang ging.
Sie strich sich die Haare aus der Stirn, dann zeigte sie auf das Haus, in dem sie jetzt wohnten – mit löchrigen Regenrinnen, aus denen schwarzes Wasser tropfte, mit Müll und Bierdosen in dem unbepflanzten Vorgarten –, und kreischte auf englisch: »Du sagen schöne Lügen, dann bringen Frau und Baby in diese Schweinstall! «
Er lief bis zum Haaransatz hinauf rot an und verschränkte die Arme vor seiner schmalen Brust, als wollte er so die Hände fixieren, damit sie keinen Schaden anrichteten. Das wäre vielleicht auch gelungen – wenigstens vorübergehend –, wenn sie nicht gelacht und sich mit einer Geste, die in allen Kulturen unmissverständlich sein dürfte, an die Schläfe getippt hätte. Danach wollte sie sich abwenden. Er riss sie zurück und stieß dabei gegen den Kinderwagen, der dadurch fast umkippte. Dann boxte er sie ins Gesicht. Sie ging auf dem von Rissen durchzogenen Gehsteig zu Boden und hielt sich die Hände vors Gesicht, als er sich über sie beugte. »Nein, Lee, nein! Nicht mehr schlagen!«
Er schlug sie nicht. Stattdessen riss er sie hoch und schüttelte sie so heftig, dass ihr Kopf vor und zurück flog.
»Sie!«, sagte jemand mit rostiger Stimme links neben mir. Sie ließ mich zusammenzucken. »Sie, junger Mann!«
Die Stimme gehörte einer alten Frau mit einem Gehgestell. Sie stand in einem rosa Flanellnachthemd, über dem sie eine Steppjacke trug, auf ihrer Veranda. Ihre nach allen Seiten vom Kopf abstehenden, eisgrauen Haare ließen mich an Frankensteins Braut und Elsa Lanchesters Do-it-yourself-Dauerwelle per 20000 Volt denken.
»Dieser Mann schlägt diese Frau! Gehen Sie dazwischen, damit das aufhört!«
»Nein, Ma’am«, sagte ich mit zittriger Stimme. Ich überlegte, ob ich hinzufügen sollte: Ich will mich nicht zwischen einen Mann und seine Frau drängen. Aber das wäre gelogen gewesen. In Wirklichkeit wollte ich nichts tun, was die Zukunft hätte verändern können.
»Sie Feigling!«, sagte sie.
Rufen Sie doch die Polizei, hätte ich fast gesagt, aber dann beherrschte ich mich gerade noch rechtzeitig. Wenn ich derjenige war, der die alte Dame auf diese Idee brachte, konnte das die Zukunft ebenfalls verändern. Würde die Polizei auch so kommen? In Als Notizen stand nichts darüber. Ich wusste nur, dass Oswald nie wegen Misshandlung seiner Ehefrau eingelocht werden würde. Vermutlich passierte das damals nur wenigen Amerikanern.
Mit einer Hand schleppte er sie zur Haustür, mit der anderen riss er den Sportwagen hinter sich her. Die alte Frau warf mir einen weiteren vernichtenden Blick zu, dann stapfte sie ins Haus zurück. Die restlichen Zuschauer folgten ihrem Beispiel. Ende der Vorstellung.
Ich schloss mich an, holte jedoch mein Fernglas und richtete es auf den hässlichen Klinkerbau schräg gegenüber. Zwei Stunden später, als ich die Überwachung gerade aufgeben wollte, kam Marina mit ihrem kleinen, rosa Koffer in der Hand und der in eine Decke gewickelten June auf dem anderen Arm aus dem Haus. Sie hatte den anstößigen Rock durch eine Hose ersetzt und schien zwei Pullover übereinander zu tragen – der Tag war kalt geworden. Sie hastete die Straße entlang und sah sich unterwegs mehrmals nach Lee um. Als feststand, dass er ihr nicht nachlaufen würde, folgte ich ihr.
Sie ging vier Straßen weiter bis zum Mister Car Wash in der West Davis Street und benutzte die dortige Telefonzelle. Ich saß mit einer Zeitung als Tarnung auf der Bank der Bushaltestelle gegen über. Nach zwanzig Minuten
Weitere Kostenlose Bücher