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Der Anschlag - King, S: Anschlag

Der Anschlag - King, S: Anschlag

Titel: Der Anschlag - King, S: Anschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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fuhr der treue George Bouhe vor. Sie sprach in ernstem Ton mit ihm. Er führte sie zur Beifahrerseite seines Wagens und hielt ihr die Tür auf. Sie lächelte und hauchte ihm dann einen Kuss auf die Wange. Beides machte ihn bestimmt selig. Schließlich setzte er sich ans Steuer und fuhr mit ihr davon.
    6
    Am selben Abend gab es noch einmal Streit vor dem Haus in der Elsbeth Street, und die unmittelbaren Nachbarn liefen abermals zusammen, um ihn zu beobachten. Weil ich mich in der Menge sicher fühlte, mischte ich mich unter die Gaffer.
    Irgendjemand – ziemlich sicher Bouhe – hatte George und Jeanne de Mohrenschildt mit dem Auftrag geschickt, den Rest von Marinas Sachen zu holen. Bouhe rechnete sich vermutlich aus, dass sie als Einzige in der Lage waren, den Auftrag ohne körperlichen Zwang gegen Lee auszuführen.
    »Der Teufel soll mich holen, wenn ich irgendwas rausrücke!«, brüllte Lee, ohne auf die Nachbarn zu achten, die jedes Wort begierig aufnahmen. An seinem Hals traten die Sehnen hervor; sein Gesicht war wieder knallrot angelaufen. Wie er diese Veranlagung hassen musste, wie ein kleines Mädchen zu erröten, das bei der Weitergabe eines Liebesbriefchens ertappt worden war!
    De Mohrenschildt versuchte an seinen Verstand zu appellieren. »Sei vernünftig, mein Freund. So gibt es noch eine Chance. Wenn sie die Polizei schickt …« Er zuckte die Achseln und hob die Hände gen Himmel.
    »Dann lasst mir eine Stunde Zeit«, sagte Lee. Er ließ Zähne sehen, aber sein Gesichtsausdruck hatte absolut nichts mit einem Lächeln gemein. »Bis dahin kann ich alle ihre Kleider zerschneiden und alles Spielzeug zertrümmern, das uns diese Geldsäcke geschickt haben, um meine Tochter zu kaufen.«
    »Was ist hier los?«, fragte mich ein junger Mann. Er war ungefähr zwanzig und mit einem Schwinn-Fahrrad unterwegs.
    »Ehekrach, schätze ich.«
    »Heißt Osmont oder so ähnlich, stimmt’s? Seine russische Frau hat ihn verlassen? Höchste Zeit, würd ich sagen. Dieser Kerl ist verrückt. Er ist ein Roter, wussten Sie das?«
    »Irgendwas in dieser Art hab ich auch schon gehört.«
    Lee marschierte mit erhobenem Kopf und zurückgenommenen Schultern die Verandatreppe hinauf – Napoleon beim Rückzug vor Moskau –, als Jeanne de Mohrenschildt ihm scharf zurief: »Schluss damit, Blödmann!«
    Lee wandte sich ihr zu. Der Blick seiner weit aufgerissenen Augen war ungläubig … und verletzt. Er starrte de Mohrenschildt vorwurfsvoll an, als wollte er sagen: Hast du deine Frau nicht im Griff? Aber de Mohrenschildt sagte nichts, sondern wirkte amüsiert. Wie ein verwöhnter Theaterbesucher, der ein Bühnenstück sah, das nicht allzu schlecht war. Nicht großartig, kein Shakespeare, aber ein recht brauchbarer Zeitvertreib.
    Jeanne: »Wenn du deine Frau liebst, Lee, musst du um Himmels willen aufhören, dich wie ein verzogenes Kind aufzuführen. Benimm dich!«
    »So kannst du nicht mit mir reden.« Unter Stress wurde sein Südstaatenakzent stärker und verschliff die Wörter.
    »Das kann ich, das werde ich, das tue ich«, sagte sie. »Lass uns ihre Sachen abholen, sonst rufe ich selbst die Polizei.«
    »Sag ihr, dass sie die Klappe halten und sich um ihren eigenen Kram kümmern soll, George«, sagte Lee.
    De Mohrenschildt lachte fröhlich. »Heute bist du unser Kram, Lee.« Dann wurde er wieder ernst. »Ich fang an, den Respekt vor dir zu verlieren, Genosse. Lass uns endlich rein. Wenn du meine Freundschaft schätzt wie ich deine, solltest du uns jetzt endlich reinlassen.«
    Lee ließ die Schultern hängen und trat beiseite. Jeanne marschierte die Stufen hinauf, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Aber de Mohrenschildt blieb stehen und zog Lee, der jetzt erschreckend abgemagert war, in eine kraftvolle Umarmung. Nach zwei, drei Sekunden erwiderte Oswald sie. Ich sah (mit einer Mischung aus Mitleid und Abscheu), dass der Junge – mehr war er eigentlich nicht – zu weinen begonnen hatte.
    »Was sind die beiden?«, fragte der junge Mann auf dem Fahrrad. »Irgendwie komisch veranlagt?«
    »Das sind sie«, sagte ich. »Nur nicht so, wie Sie meinen.«
    7
    Als ich später in diesem Monat von einem meiner herrlichen Wochenenden mit Sadie zurückkam, entdeckte ich, dass Marina und June in die Bruchbude in der Elsbeth Street zurückgekehrt waren. Einige Zeit lang schien die Familie in Frieden zu leben. Lee ging zur Arbeit – statt Windfangtüren aus Aluminium zusammenzuschrauben, vergrößerte er jetzt Fotos – und kam abends

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