Der Anschlag - King, S: Anschlag
aus dem Kopf geprügelt hatten (mit einer Menge anderer Dinge) oder weil ich von Anfang an nicht gut genug aufgepasst hatte.
Oder nur, weil die Vergangenheit unerbittlich war. Aber war er wichtig? Er wollte mir einfach nicht einfallen. Der Name war nirgends zu finden.
Sadie hämmerte ans Glas der Türfüllung. Der Schwarze mit der Schiebermütze stand da und beobachtete sie gleichmütig. Er nahm einen Zug von seiner Zigarette und machte dann eine Bewegung mit dem Handrücken, als wollte er sie wegscheuchen: Weitergehn, Lady, gehn Sie weiter.
»Jake, lass dir was einfallen! BITTE! «
12.21 Uhr.
Ein ungewöhnlicher Name, ja, aber warum war er ungewöhnlich gewesen? Zu meiner Überraschung stellte sich das als etwas heraus, was ich tatsächlich wusste.
»Weil er einem Mädchen gehört«, sagte ich.
Sadie drehte sich zu mir um. Ihr Gesicht war bis auf die Narbe, die sich weiß über ihre Wange schlängelte, hektisch gerötet. »Wie bitte?«
Plötzlich hämmerte ich an die Türfüllung. »Bonnie!«, rief ich. »He, Bonnie Ray! Lassen Sie uns rein! Wir kennen Lee! LEE OSWALD! «
Er registrierte den Namen und durchquerte mit quälend langsamen Schlurfschritten die Eingangshalle
»Wusst gar nicht, dass der dürre kleine Scheißer Freunde hat«, sagte Bonnie Ray Williams, als er die Tür öffnete. Er trat zur Seite, und wir stürmten hinein. »Bestimmt ist er mit den Kollegen im Aufenthaltsraum und wartet drauf, dass der Präsident …«
»Passen Sie auf«, sagte ich. »Ich bin nicht sein Freund, und er ist nicht im Aufenthaltsraum. Er ist im fünften Stock. Ich glaube, dass er President Kennedy erschießen will.«
Der große Mann lachte fröhlich. Er ließ seine Zigarette zu Boden fallen und trat sie mit seinem Arbeitsstiefel aus. »Der kleine Scheißer hätt nicht mal den Mumm, einen Wurf Katzen in ’nem Sack zu ertränken. Der hockt bloß immer in der Ecke und liest Bücher. «
»Ich sage Ihnen …«
»Ich geh jetzt in den Ersten rauf. Wenn Sie mitkomm wolln, können Sie’s von mir aus tun, denk ich. Aber erzählen Sie kein Blödsinn mehr über Leela. So nennen wir ihn, Leela. Den Präsidenten erschießn! Jesses! « Er winkte ab und schlenderte davon.
Du gehörst nach Derry, Bonnie Ray, dachte ich. Die sind darauf spezialisiert, nicht zu sehen, was direkt vor ihrer Nase abläuft.
»Treppe«, sagte ich zu Sadie.
»Der Aufzug wäre …«
Das Ende jeglicher Chance, die wir vielleicht noch hatten, das wäre er.
»Der Aufzug würde zwischen zwei Stockwerken stecken bleiben. Treppe. «
Ich nahm sie an der Hand und zog sie mit. Das Treppenhaus war ein enger Schacht mit in vielen Jahren ausgetretenen Holzstufen. Links wurden die Treppen von einem rostigen Eisengeländer begleitet. Sadie drehte sich zu mir um. »Gib mir den Revolver.«
»Nein.«
»Du schaffst es nie rechtzeitig. Ich schon. Gib mir den Revolver. «
Fast hätte ich ihn hergegeben. Ich bildete mir nicht ein, ich hätte es verdient, ihn behalten zu dürfen; nachdem der entscheidende Augenblick nun gekommen war, spielte es keine Rolle, wer Oswald aufhielt, wenn es nur irgendjemand tat. Aber wir waren nur noch einen Schritt von der tosenden Maschine der Vergangenheit entfernt, und der Teufel sollte mich holen, wenn ich zuließ, dass Sadie diesen Schritt vor mir machte, nur um in ihr röhrendes Gewirbel eingesaugt zu werden.
Ich lächelte, dann beugte ich mich vor und küsste sie. »Mal sehen, wer eher oben ist«, sagte ich und nahm die Treppe in Angriff. Über die Schulter hinweg rief ich: »Falls ich einschlafe, gehört er dir!«
13
»Ihr seid verrückt, Leute«, hörte ich Bonnie Ray Williams halbwegs belustigt sagen. Die leicht polternden Schritte danach sagten mir, dass Sadie mir folgte. Inzwischen hing ich fast schon über der Krücke, statt mich nur darauf zu stützen, und zog mich mit der Linken kräftig am Treppengeländer hoch. Der Revolver in meiner Sakkotasche schwang hin und her und schlug an meine Hüfte. Mein Knie schrie vor Schmerz. Ich ließ es schreien.
Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock warf ich einen raschen Blick auf meine Armbanduhr. Es war 12.25 Uhr. Nein, 12.26 Uhr. Ich konnte hören, wie das Gebrüll auf der Straße sich weiter näherte: eine Welle, die bald brechen würde. Die Autokolonne hatte die Kreuzungen der Main Street mit der Ervay Street, der Akard Street und der South Field Street passiert. In zwei Minuten – spätestens in drei – würde sie die Houston Street erreichen, dort rechts abbiegen und mit
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