Der Anschlag - King, S: Anschlag
was sie jetzt mir erzählte: Die Unterlagen über die Volkszählung von 1950 waren mit fast allen sonstigen im Rathauskeller gelagerten Dokumenten als unbrauchbar entsorgt worden.
»Letztes Jahr hatten wir schrecklichen Regen«, sagte sie. »Eine ganze Woche lang. Der Kanal ist über die Ufer getreten und hat die ganze Unterstadt – so nennen die Alteingesessenen das Stadtzentrum, Mr. Amberson – überschwemmt. Unser Keller sah fast einen Monat lang aus wie der Canal Grande in Venedig. Mrs. Starrett hat recht, diese Unterlagen hätten in der Bibliothek bleiben sollen, und niemand scheint zu wissen, weshalb und auf wessen Anweisung sie ausgelagert worden sind. Tut mir schrecklich leid.«
Es war unmöglich, sich nicht so zu fühlen, wie Al sich gefühlt hatte, während er Carolyn Poulin zu retten versuchte: als befände man sich in einer Art Gefängnis mit elastischen Wänden. Ich würde mir einen Weg ins Freie bahnen müssen, aber wie? Sollte ich im Umkreis der hiesigen Schulen herumlungern und darauf hoffen, einen Jungen zu sehen, der dem Hausmeister glich, der vor Kurzem mit über sechzig Jahren in den Ruhestand gegangen war? Ausschau nach einer Siebenjährigen halten, die ihre Schul freundinnen ständig zum Lachen brachte? Darauf warten, dass ich einen Jungen He, Tugga, wart auf mich rufen hörte?
Klar doch. Ein Fremder, der sich in einer Stadt, in der man beim Betreten des Rathauses als Erstes ein Plakat sah, das Eltern vor der Fremden-Gefahr warnte, in der Umgebung von Schulen herumtrieb. Falls es etwas gab, was als Direktflug ins Radar bezeichnet werden konnte, wäre es genau das gewesen.
Eines stand jedoch fest: Ich musste aus dem Derry Town House ausziehen. Zu den Preisen von 1958 konnte ich es mir leicht leisten, dort sieben Wochen zu wohnen, aber ich wusste, das könnte zu Gerede führen. Also beschloss ich, den Anzeigenmarkt zu studieren und ein Zimmer zu finden, das ich monatsweise mieten konnte. Ich wandte mich ab, um in die Unterstadt zurückzugehen, dann blieb ich stehen.
Bah-dah-dah … bah-dah-da-die-dam …
Das war eindeutig Glenn Miller. Es war »In the Mood«, ein Stück, das ich aus bestimmten Gründen gut kannte. Neugierig geworden, ging ich auf die Klänge zu.
7
Am Ende des wackeligen Holzzauns zwischen dem Gehsteig der Kansas Street und dem Steilhang hinunter zu den Barrens lag ein kleiner Picknickplatz. Seine Ausstattung bestand aus einem gemauerten Grill und zwei Picknicktischen, zwischen denen ein rostiger Abfallkorb stand. Auf einem der Tische stand ein tragba rer Plattenspieler, auf dem sich eine große 78er-Schallplatte drehte.
Auf dem Rasen tanzten ein schlaksiger Junge, dessen Brille mit Klebeband geflickt war, und ein bildhübsches, rothaariges Mädchen. An der LHS nannten wir die Neuntklässler im ersten Jahr »Heranwachsende«, und genau das waren diese beiden. Aber sie tanzten elegant wie Erwachsene. Und sie tanzten auch keinen Jitterbug, sondern Swing. Ich war bezaubert, aber zugleich auch … was? Erschrocken? Vielleicht ein wenig. Aber dazu kam noch etwas anderes, etwas Größeres. Eine Art Ehrfurcht, als hätte ich den Saum irgendeines großen Verständnisses zu fassen bekommen. Oder einen Blick (wie durch dunkles Glas, versteht sich) auf das eigentliche Uhrwerk des Universums geworfen.
Ich hatte Christy nämlich bei einem Swing-Tanzkurs in Lewiston kennengelernt, und dies war eines der Stücke, nach denen wir gelernt hatten. Später – in unserem besten Jahr, sechs Monate vor der Hochzeit und sechs Monate danach – hatten wir an Tanzwettbewerben teilgenommen und in der New England Swing-Dancing Competition den vierten Platz belegt (laut Christy auch als »Erster unter ferner liefen« bekannt). Unser Stück war »Boogie Shoes« von K. C. and the Sunshine Band in einem verlangsamten Tanzmix gewesen.
Das war kein Zufall, dachte ich, während ich die beiden beobachtete. Der Junge trug Jeans und ein T-Shirt mit rundem Ausschnitt; sie hatte eine weiße Bluse an, deren Schöße über eine ausgebleichte, rote Caprihose fielen. Ihr wundervoll üppiges Haar war zu dem gleichen niedlich-kecken Pferdeschwanz gebändigt, den Christy immer getragen hatte, wenn wir wettbewerbsmäßig tanzen gingen. Zu ihren weißen Söckchen und dem Tellerrock aus der damaligen Zeit, versteht sich.
Das kann kein Zufall sein.
Sie tanzten eine Lindy-Variante, die ich als Hellzapoppin kannte. Eigentlich ein schneller Tanz – blitzschnell, wenn man das nötige Stehvermögen und die körperliche
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