Der Anschlag - King, S: Anschlag
Talkumpuder.
»Darf ich Ihnen einen Rat geben?«
»Klar.«
»Vermeiden Sie es während Ihres Aufenthalts in dieser Stadt möglichst, mit Kindern zu reden. Seit dem vergangenen Sommer riskiert ein Fremder, der mit Kindern spricht, einen Besuch von der Polizei, wenn er dabei beobachtet wird. Oder bezieht gleich eine Tracht Prügel. Wär sicher auch nicht ausgeschlossen.«
»Sogar ohne Clownskostüm, was?«
»Nun, das ist der Zweck einer Verkleidung, nicht wahr?« Sein Lächeln war verschwunden. Jetzt sah er blass und grimmig aus. Mit anderen Worten: wie jedermann in Derry. »Wenn man ein Clownskostüm anzieht und eine rote Nase aufsetzt, kann niemand ahnen, wie man darunter aussieht.«
4
Darüber musste ich nachdenken, während der altmodische Aufzug quietschend in den zweiten Stock hinaufratterte. Es stimmte. Und würde irgendjemand überrascht sein, wenn ein weiterer Vater mit einem Hammer über seine Familie herfiel, wenn der Rest dessen, was Fred Toomey erzählt hatte, ebenfalls der Wahrheit entsprach? Wohl kaum. Die Leute würden einfach sagen, Derry bleibe eben Derry. Und möglicherweise hatten sie damit recht.
Als ich die Zimmertür aufsperrte, befiel mich eine echte Schreckensvorstellung: Was, wenn ich den Lauf der Dinge in den kommenden sieben Wochen nur so weit beeinflusste, dass Harrys Vater auch Harry ermordete, statt ihn bloß mit einem Hinken und leicht geistig behindert zurückzulassen?
Das wird nicht passieren, redete ich mir gut zu. Das lasse ich nicht zu. Wie Hillary Clinton 2008 gesagt hat: Ich trete an, um zu siegen.
Nur hatte sie natürlich verloren.
5
Am folgenden Morgen frühstückte ich im Riverview Restaurant des Hotels, in dem außer mir nur der Handelsvertreter vom Vorabend saß. Er war in die hiesige Zeitung vergraben. Als er sie auf dem Tisch zurückließ, schnappte ich sie mir. Mich interessierte nicht die Titelseite, auf der von weiterem Säbelrasseln auf den Philippinen berichtet wurde (obwohl ich mich kurz fragte, ob Lee Oswald irgendwo dort drüben sein mochte). Was ich wollte, war der Lokalteil. Im Jahr 2011 hatte ich das Lewiston Sun Journal gelesen, in dem die letzte Seite des Lokalteils »Schulnachrichten« gewidmet war. Unter dieser Überschrift konnten stolze Eltern die Namen ihrer Kinder lesen, wenn sie einen Preis gewonnen, einen Klassenausflug unternommen oder an einem Müllsammelprojekt in der Gemeinde teilgenommen hatten. Falls es in den Derry Daily News eine ähnliche Seite gab, war es nicht ausgeschlossen, dass ich eines der Dunning-Kinder aufgeführt finden würde.
Die letzte Seite der News enthielt jedoch nur Nachrufe.
Ich versuchte es mit dem Sportteil und las alles über das große Footballspiel am kommenden Wochenende: Derry Tigers gegen Bangor Rams. Troy Dunning war fünfzehn, wie ich aus dem Aufsatz des Hausmeisters wusste. Ein Fünfzehnjähriger konnte ohne Weiteres im Team mitspielen, allerdings vielleicht nicht in der Startaufstellung.
Ich fand seinen Namen nicht, und obwohl ich jedes Wort eines kleineren Berichts über das hiesige Peewee-Footballteam (die Tiger Cubs) las, fand ich auch Arthur »Tugga« Dunning nicht.
Ich bezahlte mein Frühstück und fuhr mit der geliehenen Zeitung unter dem Arm und dem Gefühl, ein lausiger Detektiv zu sein, in mein Zimmer hinauf. Nachdem ich die Dunnings im Telefonbuch gezählt hatte (es waren neunundsechzig), wurde mir etwas anderes bewusst: Ich war durch eine alles durchdringende Internetgesellschaft, auf die ich mich so zu verlassen gelernt hatte, dass ich sie für selbstverständlich hielt, behindert und vielleicht sogar gelähmt worden. Wie schwierig wäre es im Jahr 2011 gewesen, die Familie Dunning ausfindig zu machen? Einfach Tugga Dunning und Derry in meine bevorzugte Suchmaschine einzugeben hätte vermutlich genügt: Ich hätte Eingabe gedrückt und Google, den Big Brother des 21. Jahrhunderts, den Rest erledigen lassen.
Im Derry des Jahres 1958 hatten die leistungsfähigsten Computer die Größe einer kleinen Wohnsiedlung, und die Lokalzeitung half mir nicht weiter. Was blieb mir also? Ich erinnerte mich an einen Soziologieprofessor am College – ein sarkastischer alter Bastard –, der oft gesagt hatte: Wenn alles andere fehlschlägt, gib auf und geh in die Bibliothek.
Ich ging dorthin.
6
Am späten Nachmittag, als meine Hoffnungen sich zerschlagen hatten (wenigstens vorläufig), ging ich langsam den Up-Mile Hill hinauf und blieb an der Kreuzung von Jackson und Witcham Street stehen, um den
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