Der Apfel fällt nicht weit vom Mann
mit frischem Wasser und einem sauberen Glas die aktuelle Tageszeitung, ein neues Buch und eine noch nicht angebrochene Packung ihrer Lieblingsschokolade.
Sie hatten sie von vorne bis hinten verwöhnt, sie gehätschelt wie eine Schwerstkranke.
Das hatte sie nicht verdient.
Judy hatte sich komplett unter der Decke verkrochen, verströmte aber selbst von dort ihren wunderbaren Duft.
Der Punkt war, dass Judy Charteris sich hundeelend fühlen und dabei immer noch wie ein Engel aussehen konnte. Auch wenn sie im Moment ein einziger, undefinierbarer Haufen unter der Bettdecke war, ein überdimensionaler, depressiver, formloser Marshmallow.
Pip sah sie nicht zum ersten Mal so und befand, dass dieser Look überhaupt nicht zu ihr passte. Normalerweise gab sie sich eher wie Arandore selbst und kombinierte schäbig mit schick. Alles bunt durcheinander, ein bisschen ausgeblichen, wild kombiniert, aber doch irgendwie passend.
»Mum«, sagte Pip viel sanfter, als sie wollte.
Judy rührte sich nicht.
»Mum«, sagte Pip etwas lauter.
Judy bewegte sich ein wenig, gab aber keinen Laut von sich.
Seit Wochen schwieg sie nun schon. Susan hatte Pip erzählt, abgesehen von dem von Flora erpressten Geständnis hatten sie nichts außer unverständlichem Gemurmel von ihr gehört, hin und wieder auch mal ein Schluchzen oder leises Fluchen, dem sie aber nur die Wörter »bescheuert« und »grenzdebil« hatten entnehmen können.
Am Tag zuvor, als Judy nicht mal die Tür aufschließen wollte, hatte Pip vorgeschlagen, a) den Hausarzt, b) den Pfarrer und c) Andy Panini, den Heilpraktiker, herzuholen. Letzterer hatte vergangenes Jahr Judys Rücken wieder in Ordnung gebracht, indem er mit selbst gezüchtetem Spargel auf ihrer Lendenwirbelsäule herumgeklopft hatte, war aber kurz danach leider wegen Steuerhinterziehung im Knast gelandet. Kaum genesen, hatte Judy den neuen, ziemlich gut aussehenden Landarzt verführt, sodass seine Frau ihm unter Androhung von Scheidung verbat, auf Arandore Hausbesuche vorzunehmen. Und der Pfarrer hatte selbst eine Heidenangst davor, verführt zu werden, und hielt sich auch hübsch fern.
Also musste Pip ran. Und die war wild entschlossen, ihre Mutter heute aus ihrem Zimmer herauszuholen.
»Mum. Alles in Ordnung?«
Die Antwort darauf war Schweigen.
»Mum, willst du heute nicht mal aufstehen? Wird doch langsam Zeit ...«
Sie runzelte die Stirn.
»Mum! Bist du wach?«
»Hmmrrmpf«, hörte sie von unter der Bettdecke.
War das ein Ja? Oder ein Nein? Oder ein »Verzieh dich und lass mich in Ruhe«?
Pip versuchte es noch einmal.
»Die Sonne scheint, draußen ist ganz wunderbares Wetter. Na, komm schon, steh auf, und wenn’s nur für eine Stunde ist ...«
»Nmpf.«
»Mum? Du musst jetzt wirklich mal langsam aufstehen!«
»Nifilallfallaaa ...«
Vom Tonfall her war dieses Mal völlig klar, was ihre Mutter geknurrt hatte.
Zieh Leine.
Das war natürlich die jugendfreie Übersetzung.
Die letzten Reste von Pips Mitgefühl waren dahin. Sie wurde sauer.
»Okay. Jetzt reicht’s.«
Sie stand kurz auf und setzte sich dann mit Schmackes zurück aufs Bett, auf dass der Haufen Selbstmitleid darin kräftig durchgeschüttelt wurde. »So kann es nicht weitergehen. Weißt du eigentlich, wie lange du dich schon hier oben einschließt? Und ist dir eigentlich schon mal in den Sinn gekommen, dass es die Sache für alle anderen Beteiligten nur noch schlimmer macht, wenn du dich komplett aus allem ausklinkst? Hast du mal daran gedacht, wie es den anderen geht?«
Pip erhob sich abermals und ließ sich wieder aufs Bett plumpsen, dass es ordentlich wackelte.
»Findest du nicht, dass Raphael euch alle schon unglücklich genug gemacht hat? Musst du wirklich noch eins drauf setzen? Ich glaube dir ja, dass du ein megaschlechtes Gewissen hast, weil ihr wegen dir jetzt arm wie Kirchenmäuse seid – aber findest du es nicht noch viel schlimmer, deine Töchter jetzt mit dem ganzen Schlamassel allein zu lassen? Findest du generell nicht, dass du dich unfassbar egoistisch verhältst, Mum? Um ganz ehrlich zu sein, Mum, ich schäme mich für dich. Wirklich. Du hast ganz große Scheiße gebaut, und jetzt lässt du auch noch deine Kinder allein in der Patsche sitzen!«
Pip wusste, dass das harte Worte waren.
Aber es war doch wahr.
Und nur mit der Wahrheit konnte sie ihre Mutter aus ihrer Apathie herausreißen.
Sie erhob sich und ließ sich wieder plumpsen.
Judy stöhnte, als das Bett schaukelte.
»Wo ist die Judy Charteris,
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