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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Fuhrmann sie auf den Schlitten wirft. Im Sommer aber findet man von den nicht rechtzeitig fortgeschafften Leichen nur noch die Knochen. Die werden mit den Kieselsteinen in die Betonmischer geschaufelt. Die letzte Schleuse vor der Stadt Belomorsk ist aus einem solchen Gemisch gebaut; es bleiben die Gebeine für alle Zeiten darin eingemauert.»
    Die Betriebszeitung des Belomorstroi vermeldet triumphierend, daß viele Kanalarmisten in ihrer Freizeit (und selbstverständlich auch ohne zusätzliche Brotration), aus «ästhetischer Begeisterung» für das große Werk, die Kanalböschung mit bunten Steinen verzieren, einzig der Schönheit halber.
    Und passend wäre es durchaus gewesen, wenn sie solcherart sechs Namen draufgeschrieben hätten, die sechs Namen der obersten Gehilfen Stalins und Jagodas, der sechs gedungenen Mörder, die jeweils rund dreißigtausend Menschenleben auf dem Gewissen hatten, auch dies wäre in der Inschrift festzuhalten gewesen. Die Sechs, hier sind sie: Firin – Berman – Frenkel – Kogan – Rappoport – Schuk.

    Da wollte ich 1966, bevor ich mit diesem Buch zu Ende kam, durch den großen WeißmeerKanal fahren, mir mal selber alles ansehn, wie und was. Na, gleichsam im Wettstreit mit jenen anderen meinen hundertzwanzig Vorgängern. Aber nein, es ging nicht, war zum Reisen nichts da. Ich hätte einen Frachter nehmen müssen, aber dort sehen sie sich den Ausweis an. Und mein Name stand bereits schwarz angestrichen, da hätten sie gleich Verdacht geschöpft: Wozu die Reise? Um das Buch zu retten, hängte ich lieber den Plan an den Nagel.

4
Der Archipel versteinert
    Das Uhrwerk der Geschichte schlug indes die Stunden.
    Auf dem Januarplenum des ZK und des ZIK im Jahre 1934 verkündete der Große Führer und Lehrer (wohl schon im Kopf die Zahl der als nächste drankommenden Opfer überschlagend), daß das (seit 1920 ersehnte) Absterben des Staates durch eine maximale Verstärkung der Staatsmacht herbeizuführen sei!
    Es war so unerwartet genial, daß es nicht jeglichen Spatzenhirns Sache war, es sogleich zu begreifen; Wyschinski aber stand parat und griff es im Nu auf: «… und folglich durch den maximalen Ausbau der Besserungsarbeitsanstalten!» Der Weg in den Sozialismus führt über die Perfektionierung des Kerkers! Nicht in einem Witzblatt stand das geschrieben – vom Generalstaatsanwalt der Sowjetunion stammt der Ausspruch!
    So ging rund um den Archipel der Eiserne Vorhang nieder. Ausschließlich NKWD-Offiziere und -Sergeanten durften nunmehr die Wachen passieren. So war jene harmonische Ordnung erreicht, die bald auch den Seki als die einzig denkbare erscheint …
    Da nun bleckte der Wolf seine Zähne! Da nun taten sich die Abgründe des Archipels auf!
    «Nehmt Konservendosen statt Schuhe – und raus zur Arbeit!»
    «Wenn die Schwellen nicht reichen, leg ich euch auf den Bahndamm!»
    Dem Vernehmen nach erging im Februar-März 1938 durch die NKWD-Instanzen eine Order, die Zahl der Häftlinge zu vermindern ! (Natürlich war damit nicht gemeint, sie nach Hause zu schicken.) Mir erscheint das keineswegs unglaubwürdig: Die Order war logisch begründet, denn es fehlte an Essen, an Kleidern, an Unterkünften. Der GULAG stöhnte unter der allzu großen Last.
    Da nun ließ man die Pellagra-Kranken auf den Pritschen übereinanderliegend verfaulen. Da nun begannen die Konvoichefs die Treffsicherheit ihrer MG-Schützen an dahinstolpernden Häftlingen zu prüfen. Da nun mußten die Stubendienste jeden Morgen die Leichen zur Wache schleppen und dort aufstapeln.
    An der Kolyma, jenem Kälte-und Grausamkeitspol des Archipels, vollzog sich dieser Umschwung mit der eines Poles würdigen Schärfe.
    Den Erinnerungen von Iwan Semjonowitsch Karpunitsch-Brawen (seinerzeit Kommandeur der 40. Division, später des 12. Armeekorps; er starb vor kurzem, ließ nur unvollendete und ungeordnete Aufzeichnungen zurück) können wir entnehmen, welch hartes Regime hinsichtlich Verköstigung, Arbeit und Bestrafung an der Kolyma eingeführt wurde. Der Hunger war so groß, daß die Häftlinge an der Sarosschi-Quelle einen Pferdekadaver verspeisten, der im Juli über eine Woche dort gelegen hatte, abscheulich stank und sich unter den Fliegen und Würmern bewegte, als sei er noch lebendig. Die Seki der Utinyj-Grube löffelten ein halbes Faß gerade für die Schubkarren angeliefertes Schmierfett aus. An der Mylga nährten sich die Menschen von Moos wie die Rentiere. Wenn die Pässe vom Schnee verweht waren, bekam man in den

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