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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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giftig ist, in Mointy, in Balchasch. Auch der Norden Kasachstans war bald von Lagern übersät.
    Neubildungen wuchern im Nowosibirsker Gebiet (die Lager von Mariinsk), im Gebiet Krasnojarsk (Kansk, Kras-Lag), in Chakassien, Burjat-Mongolien, in Usbekistan, sogar in Berg-Schorien.
    So recht ins Kraut schießen die Lieblingskinder des Archipels, der russische Norden.

5
Die Säulen des Archipels
    Die Lager sind nicht einfach ein «dunkler Flecken» auf unserem nachrevolutionären Leben. Die Lagerwucherungen sitzen tief drinnen, sind nicht Leberflecken auf der Haut, sondern sitzen an der Leber selbst, im Zentrum des Geschehens.
    Wie jeder Punkt, um Punkt zu werden, zumindest zweier sich kreuzender Geraden bedarf – und jedes Ereignis zumindest zweier Notwendigkeiten –, so war auch das Lagersystem von der einen Seite her durch wirtschaftliche Bedürfnisse motiviert, die allerdings auch durch eine Arbeitsarmee hätten befriedigt werden können, wäre nicht als zweite Gerade die trefflich aufgebaute theoretische Rechtfertigung der Lager hinzugestoßen.
    Das paßte bestens, wie zusammengewachsen. Und der Archipel war geboren.
    Das ökonomische Bedürfnis meldete sich wie immer unverhohlen und gierig an: Der Staat, der sich vorgenommen hatte, in kurzer Frist zu erstarken und dafür nur Eigenes zu verwenden, brauchte eine besondere Art von Arbeitskräften; und zwar:
    a) extrem billige, noch besser – unbezahlte;
    b) anspruchslose, jederzeit überall hin transportierbare, nicht durch Familien belastete, weder Unterkünfte, noch Schulen, noch Krankenhäuser benötigende, fürs erste auch ohne Küchen, ohne Waschräume einsatzbereite.
    Solche Arbeitskräfte konnten nur beschafft werden, indem man die eigenen Söhne verheizte.
    Die theoretische Rechtfertigung aber hätte sich in der Unrast dieser Jahre nicht so mühelos konstruieren lassen, wenn nicht schon im vorigen Jahrhundert damit begonnen worden wäre. Friedrich Engels forschte und befand, daß der Mensch nicht mit der Geburt der sittlichen Idee, auch nicht mit Beginn des Denkvorgangs seinen Ursprung genommen hat, sondern mit einem zufälligen und sinnlosen Arbeitsakt: Der Affe griff nach einem Stein – und damit begann’s. Karl Marx wiederum, mit einer uns näheren Zeitspanne befaßt, bezeichnete (in seiner Kritik des Gothaer Programms ) ohne zu zögern die produktive Arbeit als einziges Mittel zur Besserung von Verbrechern (allerdings eben der Kriminellen; daß seine Schüler auch politisches Andersdenken und -handeln für ein Verbrechen halten würden, war ihm nicht im Traum eingefallen); wieder stand die Arbeit vor dem Denken und Grübeln, vor der sittlichen Selbsterkenntnis, vor der Reue, vor der Sehnsucht (die allesamt zum Überbau gehören!). Er selbst hatte sein Lebtag nicht die Spitzhacke geschwungen, auch nicht mit dem Schubkarren Bekanntschaft gemacht, weder Kohle gefördert noch Holz geschlagen, und ob er Kleinholz für die Küche machen konnte, wissen wir nicht; was tut’s, er schrieb es nieder, und das Papier wehrte sich nicht dagegen.
    Und die Nachfolger brauchten sich nicht mehr anzustrengen: Human und besserungsfördernd sei es, den Häftling täglich zur Arbeit zu treiben (mitunter für vierzehn Stunden, wie in den Goldgruben an der Kolyma). Wie es ja umgekehrt bedeuten würde, ihn zum «Vieh» zu erniedrigen (aus eben diesem Gothaer Programm ), wollte man ihn müßig in eine Zelle mit Spazierhof und Blumenbeet sperren, ihn all diese Jahre lesen, denken und diskutieren lassen.
    Freilich hatte man in der stürmischen nachrevolutionären Zeit kein Gespür für solche Finessen, da fanden sie die simple Erschießung noch um einiges humaner.
    Oh, diese «kluge, weitblickende, durch und durch menschliche Verwaltung»! – so in der Zeitschrift Life vom Obersten Richter des US-Bundesstaates New York, Leibowitz, bezeichnet. Er hatte zuvor den GULAG besucht, und was er gesehen und begriffen hatte, war: «Während der Strafverbüßung bleibt sich der Häftling der eigenen Würde bewußt.»
    Satte, unbekümmerte, kurzsichtige und leichtfertige Ausländer, ihr notizblockbewehrten und kugelschreiberzückenden Nachfahren jener Korrespondenten, die in Kem vor den Augen des Lagerchefs die Häftlinge interviewten! Wieviel habt ihr uns doch geschadet mit eurer eitlen Ambition, dort Verständnis vorzugaukeln, wo ihr keinen Deut verstanden habt!
    Menschenwürde! Desjenigen, der ohne Gerichtsurteil verurteilt ist? Der sich auf den Bahnstationen neben den Stolypins mit

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