Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
Vom Netzwerk:
«Nicht das Tempo des verfallenden europäisch-amerikanischen Kapitalismus wird hier vorgelegt, sondern ein echt sozialistisches Tempo!» verkünden stolz die Autoren.
    Nein doch, ungerecht wäre es, dieses wunderlichste Bauwerk des 20. Jahrhunderts, diesen mit Spaten und Spitzhacken durchs Festland gegrabenen Kanal mit den ägyptischen Pyramiden zu vergleichen, ungerecht, weil falsch: Sehr wohl wurde bei den Pyramiden die dazumal moderne Technik genutzt. Und unsere, die lag vierzig Jahrhunderte zurück!
    Darin bestand ja die Metzelei. Für Gaskammern hatten wir kein Gas.

    Währenddessen dröhnt es unermüdlich in den Ohren: DER KANAL WIRD AUF INITIATIVE UND IM AUFTRAG DES GENOSSEN STALIN GEBAUT! Das Radio in den Baracken, an der Baustrecke, am Bach, in der karelischen Bauernkate, in den Lastwagen, das immer wache, rund um die Uhr nicht verstummende Radio, die unzähligen schwarzen Mäuler, die schwarzen blinden Masken [wie bildhaft!] – sie brüllen ohne Unterlaß: Hört, was die Tschekisten in der Heimat über den Kanal denken, hört, was die Partei darüber sagt! Und was du hörst, das denke auch du! Was du vernimmst, das mach dir zu eigen! «Die Natur bezwungen – die Freiheit errungen!» Es lebe der sozialistische Wettbewerb und das Stoßbrigadlertum! Der Wettbewerb zwischen den Brigaden! Der Wettbewerb zwischen den Phalangen (250 bis 300 Mann)! Der Wettbewerb zwischen den Arbeitskollektiven! Der Wettbewerb zwischen den Schleusen! Schließlich rufen auch die Wachen vom WOChR die Häftlinge zum Wettbewerb auf! (Verpflichten sie sich zu was anderem, als euch besser zu bewachen?)
    Doch die wichtigste Stütze sind selbstredend die sozial-nahen Elemente, will heißen – die Ganoven ! (Am Kanal sind diese Begriffe bereits miteinander verschmolzen.) Voller Rührung ruft ihnen Gorki von der Tribüne zu: «Na was denn, jeder Kapitalist ist ein schlimmerer Beutelschneider als ihr alle zusammen!» Die Urkas brüllen geschmeichelt hurra.
    An den Baustellen wird nicht mal die Mindestration ausgeliefert, in den Baracken ist es kalt, es wimmelt von Läusen, die Leute sind krank – nitschewo, wir schaffen’s! Man schaffe eine Atmosphäre stetiger Alarmbereitschaft! Eines Nachts wird plötzlich zum Sturmangriff geblasen: Nieder mit der Bürokratie! Man stürmt ! Und beschließt, die Arbeitsnormen zu verdoppeln. So wird’s gemacht! Plötzlich meldet die Brigade, mir nichts, dir nichts, die 852prozentige Erfüllung der Tagesnorm! Versteh’s einer, wie er will! Ein andermal wird ein genereller Tag der Rekorde ausgerufen! Nieder mit den Tempoverzögerern ! Dann wieder werden in einer Brigade Prämienkuchen verteilt. (Warum aber sind die Gesichter so abgehärmt? Warum fehlt zur Jubelstunde die Freude?)
    Im Januar wird die Wasserscheide gestürmt. Die Phalangen sind samt Küchen und Gerätschaft an einer Stelle konzentriert. Die Zelte reichen nicht für alle, man schläft im Schnee, nitschewo, wir schaffen’s.
    Im April: ein ununterbrochener achtundvierzigstündiger Sturmangriff – hurra-a-a! DREISSIGTAUSEND MENSCHEN SCHLAFEN NICHT!
    Zum 1. Mai 1933 meldet der Volkskommissar Jagoda dem Geliebten Lehrer die Vollendung des Kanals zur vorgesehenen Frist.

    Dmitrij Witkowski, der schon erwähnte Solowki-Häftling, der als Bauführer am Kanal arbeitete und mittels eben jener Tuchta, will heißen, durch die Verbuchung nicht abgeleisteter Arbeitsaufträge, sehr vielen das Leben zu retten vermochte, schildert uns dieses abendliche Bild:
    «Nach Arbeitsschluß bleiben in den Baugruben die Leichen zurück. Bald sind ihre Gesichter vom Schnee zugeweht. Einer verkroch sich unter dem umgekippten Schubkarren, seine Hände stecken wärmesuchend in den Ärmeln, so liegt er da, erfroren. Ein anderer sitzt starr, den Kopf zwischen den Knien vergraben. Dort sind zwei erfroren, sie lehnen mit dem Rücken aneinander. Bauernburschen sind es, die zu arbeiten verstehen, wie man sich’s besser nicht wünschen kann. Zu Abertausenden werden sie zum Kanalbau geschickt, nur darauf wird achtgegeben, daß keiner mit seinem Vater ins selbe Lager kommt. Dann brummt man ihnen vom ersten Tag an eine Norm auf, die auch im Sommer nicht zu schaffen ist. Unsereins findet nicht mehr die Zeit, ihnen was beizubringen, sie zu warnen; sie sind von zu Hause gewohnt, mit ganzer Kraft zuzupacken – und werden rasch schwach und erfrieren, so wie die da, einer an den anderen geschmiegt. Nachts kommt ein Pferdeschlitten und klaubt sie auf. Es klingt wie Holz, wenn der

Weitere Kostenlose Bücher