Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
dem Hintern in den Dreck setzen muß? Der unter der Knute des Genossen Aufsehers mit der hohlen Hand urindurchtränkte Erde schaufelt, um sie fortzutragen, nur um ja nicht in den Karzer zu kommen? Oder jener studierten Frauen Menschenwürde, denen es als größte Ehre galt, dem Genossen Lagerkommandanten die Wäsche zu waschen und die Schweine, sein Privateigentum, zu füttern? Die sich, kaum daß er betrunken angetorkelt kam, hinlegen mußten, ihm zu Willen – weil es sonst ans Krepieren, weil es sonst nächsten Tags zu den Allgemeinen ging!?
Die Leibeigenen! … Der Vergleich hat sich vielen nicht zufällig aufgedrängt, wenn sie mal Zeit zum Denken fanden. Nicht nur einzelne Züge gleichen einander, Sinn und Zweck des Archipels sind als Ganzes der Leibeigenschaft gleich: Öffentliche Institute sind beide – geschaffen zur zwangsbefohlenen und unbarmherzigen Ausbeutung unentgeltlicher millionenfacher Sklavenarbeit.
Aber schon höre ich den Einwand: Ob die Ähnlichkeit wirklich so groß ist? Ob nicht die Unterschiede überwiegen?
Einverstanden: Die Unterschiede überwiegen. Seltsam ist nur: Alle Unterschiede sprechen zugunsten der Leibeigenschaft und alle zuungunsten des Archipel GULAG!
Die Leibeigenen arbeiteten niemals länger als vom Morgengrauen bis zur Dämmerung. Die Seki beginnen im Dunkeln und hören (wenn’s gut geht!) im Dunkeln auf. Dem Gutsherrn war der Sonntag auch für seine Leute heilig, und arbeitsfrei waren obendrein alle zwölf hohen orthodoxen Feiertage, und zur Kirmes ein Tag, und vor Dreikönige gleich ein paar (wer ging denn sonst im Umzug mit?). Der Häftling muß vor jedem Sonntag zittern: Kriegen wir ihn oder nicht? Feiertage kennt er überhaupt nicht (wie die Wolga, die niemals Feierabend macht …); jeder 1. Mai und jeder 7. November wird ihm durch Großfilzungen und sonstiges Amtsgetue zum Schikanentag gemacht, da bleibt kaum noch Zeit zum Feiern. (Manche wurden Jahr für Jahr just an diesen Tagen in den Karzer gesteckt.) Für die Leibeigenen waren Ostern und Weihnachten echte Feste; und was es hieß, bis auf die Haut gefilzt zu werden, mal nach der Arbeit, mal in der Früh, mal mitten in der Nacht («Neben den Pritschen antreten!»), das konnten sie sich gar nicht vorstellen. Die Leibeigenen hatten ihre ständige Behausung, betrachteten die Bauernkate als ihr eigen und wußten, wenn sie sich zur Ruhe legten: Diese Bank, dieser Ofen – das ist mein Schlafplatz, ist’s gestern gewesen, wird’s morgen sein. Der Häftling kann nie wissen, in welche Baracke er morgen kommt (selbst wenn er abends von der Arbeit heimtrottet, weiß er nicht, wo in dieser Nacht seine Bleibe sein wird). Da ist keine Pritsche, die er «seine» nennen könnte. Heute da, morgen dort, wie’s der Natschalnik befiehlt.
Durch sieben Jahrhunderte zwar an asiatische Sklaverei gewöhnt, hat Rußland den Hunger im großen und ganzen nicht gekannt. «In Rußland ist noch keiner Hungers gestorben», sagt ein Sprichwort. Und die werden, die Sprichwörter, nicht übern Daumen erfunden. Die Leibeigenen waren Sklaven, aber sie waren satt. Der Archipel hingegen lebte jahrzehntelang unter dem Joch des allererbärmlichsten Hungers, die Seki lagen sich wegen eines Heringskopfes aus dem Abfallkübel in den Haaren. Nach der großen Fastenzeit brachte der elendste leibeigene Muschik ein Stück Schmalz auf den festlichen Tisch. Aber selbst der beste Normerfüller im Lager bekommt Schmalz nur zu sehen, wenn’s ihm von zu Hause geschickt wird.
Die Leibeigenen lebten bei ihren Familien. Einen Bauern von seiner Familie zu trennen, ihn einzeln zu verkaufen oder auszutauschen, galt allerorts als anzuprangernde Barbarei; nicht müde wurde die russische Literatur, solche Unsitten aufzudecken. Hunderte, vielleicht Tausende (ob wirklich? kaum …) von Leibeigenen wurden von ihren Familien fortgerissen. Aber nicht Millionen. Der Häftling ist vom ersten Tag an von der Familie getrennt und bleibt es in der Hälfte der Fälle für immer. Wenn aber der Sohn mit dem Vater verhaftet wurde (wie wir es von Witkowski hörten) oder die Frau gemeinsam mit ihrem Mann, dann war es der Wärter größte Sorge, eine Begegnung im selben Lager zu verhindern oder schleunigst einzugreifen, wenn eine solche Ungehörigkeit zufällig doch mal passierte. Desgleichen wurde ein Sek-Paar, das sich in kurzer oder dauerhafter Liebe im Lager zusammenfand, unverzüglich mit Karzer bestraft, auseinandergerissen und an verschiedene Orte gejagt …
Die
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