Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
fernen Goldgruben nur 100 Gramm Brot pro Tag und Magen, und niemals wurde die einem zustehende restliche Ration später noch zugeteilt. Die Verkümmerer, die nicht mehr gehen konnten, eine Menge waren es, wurden von anderen, weniger aufgedunsenen Verkümmerern auf Schlitten zur Arbeit gezogen. Wer zurückblieb, bekam den Stock zu spüren, wurde den Hunden zum Fraß überlassen. während der Arbeit war es auch bei 45 Grad Kälte verboten, Feuer zu machen und sich zu wärmen.
Der Beginn des Krieges erschütterte die Inselobrigkeit: So, wie sich die Dinge zunächst entwickelten, hätte er auch zum Untergang des ganzen Archipels führen können, denkbar wär’s gewesen, und ob dann nicht gar die Arbeitgeber den Arbeitern eines Tages hätten Rede und Antwort stehen müssen? Soweit es sich nach den Eindrücken der Seki aus verschiedenen Lagern beurteilen läßt, rief der Verlauf der Ereignisse bei den Natschalniks zwei grundverschiedene Verhaltensweisen hervor. Die einen, vernünftiger oder auch feiger, milderten das Regime, begannen fast honigsüße Laute von sich zu geben, dies besonders während der Wochen militärischer Niederlagen. Kost und Unterbringung zu verbessern, stand natürlich nicht in ihrer Macht. Die anderen, die stureren und verbisseneren, gingen mit den Achtundfünfzigern jetzt noch grausamer und härter um, ganz so, als wollten sie ihnen zeigen, daß ihnen vor jeder anderen Befreiung der Tod gewiß war. In einigen Lagern begann man – instinktiv die künftige Politik vorausahnend – die Achtundfünfziger von den Bytowiki zu trennen und in besonders streng bewachten Zonen zusammenzufassen; auf den Türmen wurden Maschinengewehre postiert. «Ihr seid als Geiseln hier!» hieß es manchmal ganz unverhohlen beim Appell.
Gleich zu Beginn des Krieges (nachdem die Pakete mit den Mobilmachungsvorschriften geöffnet waren) wurde auf dem ganzen Archipel die Entlassung der Paragraph-58-Häftlinge eingestellt. In einigen Fällen wurden sogar schon Entlassene von unterwegs zurückgeholt. Am 23. Juni hatte eine Gruppe bereits die Wachtposten des Uchta-Lagers passiert, die Entlassenen warteten auf den Zug, als sie von den Soldaten eingeholt, zurückgetrieben und obendrein beschimpft wurden: «Wegen euch hat der Krieg begonnen!» Karpunitsch bekam an jenem 23. Juni in der Frühe seine Entlassungspapiere ausgehändigt; doch noch ehe er aus der Zone war, lockten sie ihm die Papiere mit einer List wieder heraus: «Zeigen Sie mal her!» Er zeigte sie her und saß dann weitere fünf Jahre im Lager. Sie sagten: bis zu einer Sonder verfügung. (Und als der Krieg bereits zu Ende war, durften die Seki in vielen Lagern noch nicht einmal in der Verwaltung nachfragen, wann man sie denn endlich freilassen würde. Der Grund dafür war, daß es dem Archipel nach dem Krieg eine Zeitlang an Menschen mangelte und viele örtliche Verwaltungen eigene «Sonderverfügungen» erließen, um die Arbeitskräfte auch dann noch zurückzuhalten, als sogar Moskau die Freilassung angeordnet hatte.)
Ein Lager der Kriegszeit, das hieß: mehr Arbeit, kargere Kost, weniger Heizmaterial, schlechtere Kleidung, härtere Gesetze, strengere Strafen – zu Ende ist die Liste damit nicht.
Die Lager der Kriegszeit waren für die Achtundfünfziger vor allem durch die Verhängung zweiter Fristen schwerer zu ertragen, die einen fast schlimmer als das Henkersbeil traf. Um sich selber vor dem Frontdienst zu retten, deckten die Einsatzbevollmächtigten in den entlegensten Winkeln und Holzschlägen Verschwörungen imperialistischer Agenten, Pläne zum bewaffneten Aufstand und versuchte Massenausbrüche auf.
In derlei Formen versteinerten also die Inseln des Archipels, man soll indes nicht glauben, daß sie, zu Stein werdend, aufhörten, Metastasen abzuscheiden.
Im Jahre 1939, kurz vor dem Finnischen Krieg, wurde das Solowki-Lager, die Alma mater des GULAG, weil zu nahe an der westlichen Grenze gelegen, auf dem nördlichen Seeweg an die Mündung des Jenessej verlegt, wo es mit dem in Entstehung begriffenen Lager Norilsk verschmolz; dort zählte man bald 75 000 Insassen. So bösartig waren die Solowki, daß sie auch noch im Sterben eine Metastase bildeten – die letzte, aber was für eine!
In die Vorkriegsjahre fällt die Eroberung der unbewohnten kasachischen Steppen durch den Archipel. Das Gespinst der Karaganda-Lager dehnt sich mächtig in alle Himmelsrichtungen aus, fruchtbare Metastasen setzen sich in Dschesgasgan ab, wo das Wasser wegen des Kupfers
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