Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
verschneiten Wald einziehen, den Stacheldraht rundum von Baum zu Baum selbst spannen. Und mag er gar die ersten Baracken noch erleben – die werden für die Wachen sein.
Das ist er also – der Alltag meines Archipels.
Wie nirgendwo sonst hätten die Philosophen, Psychologen, Mediziner und Schriftsteller in unseren Lagern mit aller Akribie und in großer Vielfalt solch spezifische Prozesse beobachten können, wie die Einengung des intellektuellen und geistigen Horizonts des Menschen, sein Herabsinken zum Tier – und sein Absterben noch vor dem eigentlichen Tod.
Wie nichts, was Leben besitzt, zu existieren vermag, ohne das Verarbeitete auszuscheiden, so hätte auch der Archipel sich nicht anders durchbringen können, als durch die Ausscheidung seines hauptsächlichen Abfalls – der Verkümmerer. Und alles, was der Archipel erschuf, preßte er aus den Muskeln der Verkümmerer heraus (ehe er Verkümmerer aus ihnen machte). Jenen Überlebenden aber, die nun maulen, es seien die Verkümmerer selbst schuld gewesen, gereicht das eigene bewahrte Leben zur Schande.
Aus dem Kreis dieser Überlebenden schicken mir heute die parteitreuen Orthodoxen erhabene Entgegnungen: Wie niedrig doch das Fühlen und Denken der Gestalten im Iwan Denissowitsch sei! Und wo denn ihre kummervollen Überlegungen über den Gang der Geschichte blieben? Immer nur die Brotration und die Balanda im Kopf, als ob es nicht Qualen gäbe, die schwerer als der Hunger wögen?!
Sieh da, die gibt’s? Sieh da, gar übler sind sie als der Hunger? (Die Qualen des orthodoxen Denkens …) O nein, ihr habt den Hunger nicht gekannt, meine Herren linientreuen Loyalisten, die ihr damals bei der Sanitätsstelle und in den Magazinen Unterschlupf fandet!
Seit Jahrhunderten ist bekannt, daß der Hunger die Welt regiert. (Auch die ganze Fortschrittliche Theorie geht, nebenbei gesagt, vom Hunger aus: davon, daß sich die Hungernden gegen die Satten erheben werden.) Der Hunger waltet über jeden hungernden Menschen, vorausgesetzt lediglich, daß jener sich nicht etwa bewußt für das Sterben entscheidet. Der Hunger, der einen ehrlichen Menschen zum Stehlen verleitet («Wenn der Magen knurrt, ist das Gewissen stumm»). Der Hunger, der den Neidlosesten unter uns gierig nach einer fremden Schüssel schielen läßt, und den Großzügigsten mit Pein erfüllt, wenn er das Brotstück des Nachbarn mit den Augen abwiegt. Der Hunger, der einem das Gehirn vernebelt und keinen anderen Gedanken, kein anderes Gespräch aufkommen läßt als immer nur das Essen, das Essen, das Essen. Der Hunger, vor dem du auch in den Schlaf nicht flüchten kannst: Alle Träume gaukeln dir Essen vor, und bald liegst du schlaflos da und siehst auch dann nur immer dasselbe Essen vor dir. Ein Hunger, den du im nachhinein nicht mehr stillen kannst, denn er macht den Menschen zum Abflußrohr, aus dem alles genauso wieder herauskommt, wie es geschluckt worden ist.
Und auch solches wird der russische Film dereinst zeigen müssen: wie die Verkümmerer, jeder dem andern ein eifersüchtiger Rivale, vor der Küchentür lauern, um den Augenblick nicht zu verpassen, wenn die Abfälle in die Müllgrube getragen werden. Wie sie hinstürzen, raufen, nach einem Fischkopf, einem Knochen, nach Kartoffelschalen suchen. Und wie einer dabei zu Tode getrampelt wird. Und wie sie die Abfälle später waschen, kochen und vertilgen. (Und wer von den Kameraleuten besonders wißbegierig ist, kann weiterfilmen: wie sich eben von draußen eingelieferte bessarabische Bäuerinnen 1947 in Dolinka mit der gleichen Absicht auf den von den Verkümmerern bereits abgesuchten Misthaufen stürzen.) Die Aufnahmen werden zeigen, wie unter den Decken des Krankenreviers nur noch durch Sehnen zusammengehaltene Gerippe liegen, fast regungslos sterben – und von anderen hinausgetragen werden. Überhaupt: wie leicht ein Mensch stirbt! Sprach – und verstummte; ging seines Weges – und fiel um. «Einmal hingeblasen – und weg ist er.» Wie in den Außenstellen von Unscha oder Nukscha ein bulliger sozialnaher Anordner seine Leute zum Morgenappell an den Füßen von den Pritschen runterzerrt, aber einer ist schon tot und kracht mit dem Kopf auf den Boden. «Ist abgekratzt, der Lump!» Der Anordner tritt dem Lumpen noch mal fröhlich in die Seite. (In jenen Lager-Außenstellen gab es während des Krieges weder Arztgehilfen noch Sanitäter, darum also auch keine Patienten, und wer sich krank stellte, wurde von den Kameraden untergefaßt und in
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