Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
Vom Netzwerk:
geschrieben – wozu aber? Diese Zahl fiel mir rein zufällig in die Hände, ein Sek, der seinerzeit Zugang zu den Listen hatte, teilte sie mir mit. Aber für alle Lager, für alle Jahre – wo die Zahlen erfahren, wie sie addieren?
    Die Toten – vertrocknete Pellagragerippe (ohne Hinterbacken, die Frauen ohne Brüste), verfaulte Skorbutleichen – wurden in der Leichenbaracke, manchmal auch einfach unter freiem Himmel inspiziert. Selten glich dies einer medizinischen Obduktion: Vertikalschnitt vom Hals bis zum Schambein, Brechung eines Beines, Öffnung der Schädeldecke. Meistens führte nicht ein Anatom, sondern ein Wachsoldat die Kontrolle durch: ob der Sek wirklich tot war oder sich nur verstellte. Zu diesem Zweck wurde der Leib mit dem Bajonett durchstochen oder der Schädel mit einem großen Hammer zertrümmert. Dies erledigt, band man dem Toten ein Kerbholz an die große Zehe, auf dem die Nummer der Gefängnisakte stand, unter der er in den Lagerlisten geführt wurde.
    Irgendwann in früheren Zeiten wurden die Leichen in der Unterwäsche begraben, späterhin – in den schlechtesten, dreimal abgetragenen grauschmutzigen Fetzen. Dann erging eine einheitliche Verfügung: Fortan sei mit der Wäsche zu sparen (die kann noch den Lebenden zustatten kommen), man begrabe die Leichen nackt.
    Irgendwann einmal hieß es in Rußland, daß ein Toter nicht ohne Sarg auskomme. Die elendsten Robotbauern, Bettler und Vagabunden bekamen einen Sarg mit in die Erde. Desgleichen die Katorga-Sträflinge von Sachalin und Akatui. Auf dem Archipel aber hätte dieser Brauch eine millionenfache sträfliche Vergeudung von Nutzholz und Arbeitszeit bedeutet. Als an der Inta nach dem Krieg ein verdienter Meister der Holzfabrik in einem Sarg begraben wurde, gab die Kultur-und Erziehungsstelle die Weisung, die Sache agitatorisch auszuwerten: «Arbeitet gut – und ihr werdet ebenfalls in einem Holzsarg begraben werden !»
    Fortgebracht wurden die Leichen auf Schlitten oder Leiterwagen, je nach Saison. Mitunter nahm man der Bequemlichkeit halber eine Kiste für je sechs Leichen; wo es keine Kisten gab, banden sie Arme und Beine mit Schnur zusammen, damit sie nicht herunterbaumelten. Dann wurde so eine Fuhre wie mit Stämmen beladen, am Ende mit einer Bastmatte zugedeckt. Stand Ammonal zur Verfügung, sprengte die spezielle Totengräberbrigade damit Gruben aus. Andernfalls mußten sie mit Spaten vorlieb nehmen, immerzu Massengräber ausschaufeln, mal tiefe für viele, mal flache für vier Mann. (Im Frühjahr zieht von den flachen Gruben Leichengeruch übers Lager, dann schicken sie Verkümmerer zum Vertiefen hin.)
    Dafür aber wird uns niemand der Gaskammern beschuldigen.
    Wo es mehr Freizeit gab, zum Beispiel in Kengir, stellte man Pfähle über den Grabhügeln auf, und nicht irgendwer, sondern der Vertreter der Kontroll-und Verteilungsstelle persönlich schrieb mit wichtiger Miene die Inventarnummer der Bestatteten darauf. Übrigens wurde in Kengir auch ein Schädlingskomplott aufgedeckt: Irgendwer zeigte den angereisten Müttern und Frauen den Weg zum Friedhof. Sie gingen hin und weinten. Da ließ der Kommandant des Step-Lags, Genosse Oberst Tschetschew, Bulldozer anfahren, die Pfähle umwerfen und auch die Hügel einebnen: haben doch die Undankbaren nichts anderes verdient.
    So liegt, meine Leserin, dein Vater begraben, dein Mann, dein Bruder.

8
Die Frau im Lager
    Kein Laut dringt aus dem Gang. Ob ein weibliches Wesen vorbeigeht, ob ein Rock vorbeiraschelt – du hörst es nicht. Doch da klemmt mal das Schloß, der Aufseher bringt die Tür nicht gleich auf und läßt die Männergruppe eine halbe Minute lang im oberen hellen Korridor stehen, und wir, wir lugen zwischen den Fensterblenden hindurch in den grünen Garten hinunter, bis plötzlich ebenso in Zweierreihen aufgestellte, auf einem Asphaltfleckchen ebenfalls aufs Türaufsperren wartende Füße in Damenschuhen in unser Blickfeld geraten, nur die Waden sehn wir und die Schuhe, Stöckelschuhe gar darunter! – und wie der Orchestereinsatz zu Wagners Tristan und Isolde hallt es in uns wider! Höher hinauf können unsere Blicke nicht wandern, schon treibt uns der Aufseher in die Zelle, wir tappen hinein, beglückt und bedrückt, haben uns das übrige hinzugemalt, haben uns himmlische Geschöpfe, gebrochene, sterbende Opfer hinzugedacht. Wie mag es ihnen gehen? Ihnen! …
    Doch es scheint, daß es sie nicht härter, nein, eher leichter ankam als uns. In den Berichten weiblicher

Weitere Kostenlose Bücher