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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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den Wald geschleppt; ein Brett und einen Strick nahmen sie gleich mit, weil sie die Leiche nach Arbeitsschluß so leichter zurückschleifen konnten. Im Wald setzten sie den Kranken beim Feuer nieder und waren alle, Häftlinge wie Wachen, daran interessiert, daß er schnell starb.)
    Was die Kamera nicht zu erfassen vermag, wird uns die bedächtige, genaue Prosa beschreiben, sie wird alle Nuancen des Todesweges erkennen, der einmal Skorbut, einmal Pellagra, einmal alimentäre Dystrophie heißt. Da bleibt mal Blut nach dem Zubeißen auf dem Brot zurück – der Skorbut ist es, der sich anmeldet. In der Folgezeit verliert man Zähne, das Zahnfleisch wird faulig, Geschwüre brechen an den Beinen auf, und die Haut fällt einem in Fetzen vom Leibe, der Mensch stinkt bald nach Leiche, aber das Krankenrevier nimmt solche nicht auf. Also kriechen sie, die Beine von dicken Beulen übersät, auf allen vieren durch die Zone.
    Die Gesichtshaut wird dunkel, wie braungebrannt, und schält sich, später wird der Mann von Durchfall geschüttelt – es ist die Pellagra. Irgendwie müßte der Durchfall gestoppt werden; dort rät man zu Kreide, drei Löffel am Tag seien das beste, hier schwört man auf Hering: Wenn man nur einen auftreiben und sich daran sattessen könnte, würde das Futter endlich im Magen bleiben. Wie kommt aber ein Sek zu Hering? Schwächer und schwächer wird der Kranke mit jedem Tag, und je größer er ist, desto schneller geht es bergab. Schon kann er nicht mehr auf die obere Pritsche klettern, nicht über einen liegenden Baumstamm steigen: muß das Bein mit beiden Händen heben oder bäuchlings drüberkriechen. Der Durchfall schwemmt alle Kräfte und jedes Interesse aus dem Menschen raus, gleichgültig wird ihm der Nachbar, das Leben und das eigene Los. Er hört nichts mehr, versteht nichts mehr, kann schon nicht mehr weinen nach Menschenart, mögen sie ihn auch hinterm Pferd über die Erde schleifen. Der Tod verliert für ihn jeden Schrecken, rosiges Nachgeben-Wollen ergreift von ihm Besitz. Er hat alle Grenzen überschritten, weiß nicht mehr, wie die Frau und die Kinder heißen, hat den eigenen Namen vergessen.
    Blauschwarze Pickel mit stecknadelgroßen Eiterköpfen bedecken manchmal den Körper eines Verhungernden: sein Gesicht, die Gliedmaßen, den Leib und sogar die Hoden. Jede Berührung läßt ihn vor Schmerz aufbrüllen. Die Pickel reifen, brechen auf, dicker Eiter kommt wurmig hervor. Der Mensch verfault lebendigen Leibes.
    Wenn schwarze Kopfläuse verdutzt über das Gesicht deines Pritschennachbarn zu kriechen beginnen, ist es das sichere Zeichen des Todes.
    Pfui, wie naturalistisch! Wozu noch davon erzählen?
    Und überhaupt, halten uns heute jene vor, die selber nicht gelitten, die selber gemordet, oder ihre Hände in Unschuld gewaschen, oder Lämmermienen aufgesetzt hatten, überhaupt, sagen sie – wozu sich daran erinnern? Wozu in alten Wunden rühren? (In IHREN Wunden!)

    In unserem ruhmreichen Vaterland, das es seit mehr als hundert Jahren fertigbringt, die Arbeiten eines Tschaadajew nicht zu publizieren, weil sie – so heißt es – reaktionäres Gedankengut enthalten, nimmt es niemanden mehr wunder, daß die wichtigsten und mutigsten Bücher niemals von den Zeitgenossen gelesen werden und das Denken des Volkes niemals zur rechten Zeit beeinflussen. Auch zu diesem Buch trieb mich einzig das Bewußtsein einer zu erfüllenden Pflicht: Zu viele Erzählungen und Erinnerungen hatten sich bei mir angesammelt und mußten vor der Vernichtung bewahrt werden. Ich konnte nicht damit rechnen, es irgendwann mit eigenen Augen gedruckt zu sehen; hatte wenig Hoffnung, daß jene es lesen würden, die mit heiler Haut dem Archipel entkamen; glaubte nicht, daß es die Wahrheit unserer Geschichte darlegen könnte, solange es noch möglich sein sollte, etwas zurechtzurücken.

    Indes gibt es eine Art vorfristige Entlassung, die dem Häftling kein Blaubemützter stehlen kann. Diese Entlassung ist – der Tod. Die fundamentale, unversiegliche und von niemandem genormte Ausbeute des Archipels.
    Vom Herbst 1938 bis Februar 1939 starben in einer Außenstelle des Ust-Wym-Lagers von 550 Häftlingen 385. Manche Brigaden (jene Ogurzows) starben bis zum letzten Mann, samt Brigadier. Im Herbst 1941 führte das Eisenbahn-Lager an der Petschora 50 000 Namen in den Listen, im Frühjahr 1942 waren es 10 000. In der Zwischenzeit ging kein Transport ab – wohin also waren Vierzigtausend verschwunden? Ich habe die Tausender kursiv

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