Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
Vom Netzwerk:
ihrer Natur her und schon draußen leichter, will sagen, ohne sonderlich wählerisch zu sein, mit Männern einließen. Dieser Sorte Frauen stehen im Lager natürlich allemal die leichten Wege offen. Persönliche Eigenschaften lassen sich nicht einfach nach Strafparagraphen aufgliedern, dennoch gehen wir kaum fehl, wenn wir sagen, daß sich das Gros der nach § 58 Verurteilten nicht aus solchen Frauen zusammensetzte. Manch einer ist dieser Schritt vom ersten bis zum letzten Tag unerträglicher als das Sterben. Andere schaudern und zaudern (auch die Scham vor den Gefährtinnen hält sie zurück) und merken später, falls sie sich trotzdem dazu entschlossen, trotzdem sich ergeben dareingefügt haben, daß es zu spät ist: Sie sind im Lager nicht mehr gefragt.
    Denn das Angebot ergeht nicht an jede.
    So geben denn viele schon am ersten Tag nach. Zu grausam erscheint ihnen die Zukunft – und ohne jegliche Hoffnung. Neben Ehefrauen, neben Familienmüttern treffen auch kaum erwachsene Mädchen diese Wahl. Und gerade sie, halbe Kinder noch, legen, von der nackten Grobheit des Lagerlebens betäubt, bald alle Hemmungen ab.
    Du willst nicht? Na, bitte! Ziehe Wattehosen und Joppe an. Und mach dich, außen unförmig und dick, innen schwach und gebrechlich, auf den Weg in den Wald. Wirst noch von selbst zurückgekrochen kommen, auf den Knien um Vergebung betteln.
    Was tut’s, daß du draußen mal irgendwen geliebt und irgendwem die Treue geschworen hast! Was würde ihm die Treue eines vermodernden Gerippes nützen? «Wer wird dich noch haben wollen, wenn du rauskommst?» Dies ist der ewige Refrain eines jeden Gesprächs in der Frauenbaracke. Bald bist du alt und reizlos, traurig und leer werden deine letzten Frauenjahre verrinnen. Beeil dich lieber, auch diesem wüsten Leben etwas abzugewinnen. Ob das nicht vernünftiger ist?
    Es fällt dir schon deshalb leichter, weil dich niemand scheel ansehen wird. «Hier leben alle so.»
    Es läßt sich schon darum der Schritt leichter wagen, weil das Leben jeden Sinn, jedes Ziel verloren hat.
    Die mit Lumpen abgeschirmte Liege ist ein klassisches Attribut aller Lager. Es geht indes auch einfacher. Wieder greifen wir auf den 1. Lagerpunkt von Kriwoschtschokowo zurück; es war zwischen 1947 und 1949. (Dieser OLP ist uns bekannt, aber wie viele andere gab es von der Art?) Kriminelle, Bytowiki, Minderjährige, Invaliden, Frauen und Mamkas (im Lager entbundene, stillende Mütter) hausen dort auf einem Fleck. Die einzige Frauenbaracke beherbergt immerhin fünfhundert Personen. Sie ist unbeschreiblich verdreckt, unfaßbar verdreckt, vernachlässigt und verstunken. Keine Bettwäsche auf den Liegen. Den Männern war der Eintritt von Amts wegen verboten, aber niemand hielt sich daran, und keiner prüfte nach. Nicht nur Männer kamen in Scharen, sondern auch Minderjährige, zwölf-und dreizehnjährige Jungen, die etwas lernen wollten. Die Unterweisung begann beim simplen Zuschauen: Dort gab es keine falsche Scham, ob aus Mangel an Fetzen oder an Zeit, wie auch immer: Die Liegen wurden nicht verhängt, und das Licht, versteht sich, niemals gelöscht. Es vollzog sich alles mit naturhafter Selbstverständlichkeit, vor aller Augen und an mehreren Stellen zugleich. Nur offensichtliches Alter oder offensichtliche Häßlichkeit boten einer Frau Schutz – nichts anderes. Ein hübsches Gesicht war ein Fluch, alleweil zog es Kunden an; stets bedrängt sah sich eine Hübsche und bedroht: mit dem Stock, mit dem Messer. Nicht darin lag die Hoffnung einer Frau, daß sie standhaft bliebe, sondern darin, daß sie mit Bedacht nachgab, sich unter den vielen den einen heraussuchte, der sie später durch die abschreckende Kraft seines Rufs oder seines Messers zu beschützen imstande wäre: vor den andern, vor den nächsten, vor dem ganzen gierigen Reigen und vor den aufgestachelten Frischlingen, die über dem, was sie da sahen und einatmeten, bald in wilde Erregung gerieten. Aber nicht nur um die Abwehr der Männer ging es, nicht nur um die aufgepeitschten Jungen – auch um diejenigen Frauen, die tagein, tagaus zusehen mußten und selbst nicht gefragt waren; am Ende gerieten sie ebenfalls außer Rand und Band – fielen über die glücklicheren Nachbarinnen her, um sie zu verprügeln.
    In Windeseile breiteten sich Geschlechtskrankheiten über das Kriwoschtschokowo-Lager aus. Schon wollte ein Gerücht wissen, daß die Hälfte der Frauen krank sei, aber was tun? Wie früher drängten sich die Scharen der Gebietenden und

Weitere Kostenlose Bücher