Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
37/38 weder der einzige noch auch der hauptsächliche war, vielleicht nur einer von den drei großen Strömen, die die düsteren stinkigen Rohre unserer Gefängniskanalisation beinahe zum Bersten brachten.
Vorher war der Strom der Jahre 1929/30 gewesen, ein Strom, so mächtig wie der Ob, der gut fünfzehn Millionen Muschiks (wenn nicht gar mehr) in die Tundra und in die Taiga geschwemmt hat. Doch die Bauern sind der Sprache nicht mächtig, des Schönschreibens nicht kundig, sie verfaßten weder Beschwerden noch Memoiren. Die Untersuchungsrichter haben sich mit ihnen nächtens nicht abgemüht. Protokolle waren für sie zu schade – es genügte die Verordnung ihres heimatlichen Dorfsowjet. Verströmt war dieser Strom, aufgesogen vom ewigen Frostboden, und auch die allerhitzigsten Köpfe erinnern sich kaum noch daran. Als hätte er das russische Gewissen nicht einmal gestreift. Indessen war kein Verbrechen Stalins (und unser aller) schwerer als dieses gewesen.
Und nachher gab’s den Strom von 1944–46, einen Jenissej von Strom durchaus: Ganze Nationen wurden durch die Abflußrohre gepumpt und dazu noch Millionen und Abermillionen von Heimkehrern aus Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit – auch dies unsere Schuld, daß sie unter die Deutschen gerieten! (Das war Stalins Art, Wunden auszubrennen, damit sich rascher Schorf bilde und dem müden Leib des Volkes keine Atempause gegeben werden müsse.) Doch auch in diesem Strom war überwiegend einfaches Volk; es schrieb keine Memoiren.
Der Strom des siebenunddreißiger Jahres aber riß auch Hochgestellte und Einflußreiche mit sich, Leute mit Parteivergangenheit und Menschen mit höherer Bildung; fortgeschwemmt wurden sie ins Inselreich GULAG, zurück aber blieben Wunden, in den Städten, aus denen sie kamen. Und diejenigen, die er gestreift hatte – wie viele waren es, die sich aufs Schreiben verstanden! –, schreiben denn heute alle und führen es alle im Munde: das Jahr 37! Eine Wolga von menschlichem Leid!
Sag aber einem Tataren, Kalmücken oder Tschetschenen: «Neunzehnhundertsiebenunddreißig» – er wird bloß mit der Achsel zucken. Und was soll Leningrad mit dem Jahr 37, wo es vorher das fünfunddreißiger Jahr gehabt hatte? Und die zum zweiten Mal einsaßen oder die Balten, soll für sie 1948/49 leichter gewesen sein? Mögen die Eiferer der Geographie und des guten Stils nun einwenden, ich hätte in Rußland manch anderen Fluß vergessen – nur Geduld, noch sind die Ströme nicht alle genannt, laßt mir bloß genug Papier. Dann werden aus den Strömen die übrigen Namen fließen.
Es ist bekannt, daß jedes Organ ohne Übung verkümmert.
Wenn wir also wissen, daß den Organen (diese widerliche Bezeichnung stammt von ihnen selbst), die da besungen wurden und emporgehoben über allem Lebenden, kein winziger Fühler abstarb, sondern umgekehrt, immer neue erwuchsen, muskelstark und beweglich, dürfte es uns nicht schwerfallen zu erraten, daß sie ständig in Übung waren.
In den Rohren gab es Pulsschwankungen – einmal lag der Druck über dem kalkulierten, ein andermal auch darunter, doch niemals blieben die Gefängniskanäle leer. Blut, Schweiß und Harn, was von uns nach der Ausquetschung übrigblieb, sprudelte darin ohne Unterlaß. Die Geschichte dieser Kanalisation ist die Geschichte eines nicht erlahmenden Soges, einer nicht versiegenden Strömung, mit Hochwasser und Ebbe und wieder Hochwasser, und die Ströme waren einmal mächtiger und dann wieder schwächer, und von allen Seiten kamen noch Bäche, Bächlein, Rinnsale und einzelne mitgeschwemmte Tröpfchen hinzu.
Die im weiteren angeführte chronologische Aufzählung, in der mit gleicher Sorgfalt die Ströme aus Millionen von Verhafteten und die Bächlein aus einfachen unscheinbaren Dutzenden vermerkt werden, ist noch lange nicht komplett, noch dürftig und durch meine Möglichkeiten beschränkt, in die Vergangenheit vorzudringen. Viele Ergänzungen werden notwendig sein, durch Menschen, die wissen und am Leben geblieben sind.
Heutige Überlegungen über die Jahre 1918–20 bringen uns in Verlegenheit: Sind auch all jene den Gefängnisströmen zuzurechnen, die noch vor der Gefängniszelle umgelegt wurden? Und in welche Rubrik mit jenen, die von den Kombeds an der Scheunenwand des Dorfsowjet oder in den Hinterhöfen liquidiert wurden? Und die Teilnehmer an den zuhauf entlarvten Verschwörungen in den Provinzen, für jedes Gouvernement eine eigene. Haben sie auch nur mit einem Fuß das Inselreich
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