Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Darum wurden der Patriarch Tichon verhaftet und zwei aufsehenerregende Prozesse mit Todesstrafen inszeniert: einer in Moskau, wegen Verbreitung des Patriarchenaufrufs, einer in Petrograd, gegen den Metropoliten Wenjamin, der sich der Machtübernahme durch die «Lebendigen Kirchler» in den Weg stellte. In den Gouvernements und Landkreisen wurden hier und dort Metropoliten und Erzbischöfe verhaftet; den großen Fängen folgten, wie immer, Schwärme von kleineren Fischen, Oberpriestern, Mönchen und Diakonen, die in den Zeitungen unerwähnt blieben. Verhaftet wurde, wer auch unter Druck den Lebendige-Kirche -Erneuerern den Treueschwur verweigerte.
Die Geistlichen stellten den Pflichtteil eines jeden Jahresfanges; die silbergrauen Popenhäupter waren in jeder Gefängniszelle, später in allen nach den Solowki abgehenden Häftlingspartien zu finden.
In die Fänge gerieten seit den frühen zwanziger Jahren auch die Gruppen von Theosophen, Mystikern, Spiritisten (die Gruppe des Grafen Pahlen hielt ihre Gespräche mit den Geistern protokollmäßig fest), religiöse Vereine, Philosophen des Berdjajewschen Kreises. En passant wurden die «Ostkatholiken» (die Nachfolger Wladimir Solowjews), die Gruppe der A. I. Abrossimowa, ausgehoben. Irgendwie schon ganz von selbst fanden sich Katholiken, die polnischen Pfarrer, hinter Schloß und Riegel.
Es konnte jedoch die totale Ausmerzung der Religion in diesem Lande, eines der Hauptziele der GPU-NKWD während der zwanziger und dreißiger Jahre, erst durch Massenverhaftungen unter den orthodoxen Gläubigen selber erreicht werden. Intensiv wurde die Aushebung, Verhaftung und Verbannung von Mönchen und Nonnen vorangetrieben, jener schwarzen Flecken auf dem früheren russischen Leben. Verhaftet und vor Gericht gestellt wurden die Aktivisten unter den Laien. Die Kreise weiteten sich mehr und mehr: Bald wurden einfach gläubige Gemeindemitglieder eingefangen, alte Menschen, besonders viele Frauen, die in ihrem Glauben hartnäckiger waren und nun, in den Durchgangsgefängnissen und Lagern, für lange Zeit ebenfalls den Beinamen Nonnen erhielten.
Es hieß allerdings, daß sie nicht um ihres Glaubens willen verhaftet und abgeurteilt wurden, sondern wegen der öffentlichen Bekundung ihrer Überzeugungen und wegen der entsprechenden Erziehung der Kinder. So erklärt es Tanja Chodkewitsch:
«Du kannst in voller FREIHEIT beten,
Doch … daß nur Gott allein dich hört.»
(Wegen dieses Gedichts bekam sie zehn Jahre.) Ein Mensch, der glaubt, das geistig Wahre zu erkennen, muß dies vor seinen Kindern verbergen! Die religiöse Erziehung der Kinder wurde in den zwanziger Jahren nach § 58,10, das heißt, als konterrevolutionäre Agitation klassifiziert! Zugegeben, man bot den Gläubigen vor Gericht eine Chance: Sie sollten bloß der Religion abschwören. Es gab Fälle, wenn auch wenige, wo der Vater abschwor und daheimblieb mit den Kindern, die Mutter aber dieser Kinder den Weg nach den Solowki wählte (in all diesen Jahrzehnten waren die Frauen in ihrem Glauben standhafter gewesen). Für die Religion bekam man den Zehner, die damalige Höchststrafe.
(Im Zuge der Müllbeseitigung in den Städten für die anbrechende reine Gesellschaft wurden in denselben Jahren, besonders 1927, die nach den Solowki abgehenden «Nonnen»-Transporte mit Prostituierten komplettiert. Parteigängerinnen des sündigen irdischen Lebens, fielen sie unter einen leichteren Paragraphen und erhielten drei Jahre. Die Verhältnisse, die sie während des Transports, in den Zwischenlagern und auf den Solowki selbst antrafen, waren der Ausübung ihres fröhlichen Gewerbes nicht hinderlich, sie verdingten sich bei den Chefs wie bei der Wachmannschaft und kehrten nach drei Jahren mit schweren Koffern zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Den Religiösen hingegen war eine Rückkehr zu Kind und Heim für immer verbaut.)
Schon in den frühen zwanziger Jahren kamen rein nationale Ströme in Fluß. Die Ströme fließen durch unterirdische Rohre und sanieren das an der Oberfläche blühende Leben.
Nach dem Prozeß der Industriepartei stand für 1931 der grandiose Prozeß gegen die Werktätige Bauernpartei auf dem Programm – einer angeblich (nie und nirgends!) existierenden riesigen Untergrundorganisation, welche sich aus Kreisen der ländlichen Intelligenz, der Konsum-und Agrargenossenschaften und der Spitze der gebildeten Landwirte rekrutiert und auf den Sturz der proletarischen Diktatur hingearbeitet habe. Beim Prozeß der
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