Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
betreten, oder waren sie nicht mehr dazugekommen, gehören somit nicht zum Gegenstand unserer Untersuchung? Von der Niederwerfung einiger berühmter Revolten abgesehen (Jaroslawl, Murom, Rybinsk, Arsamas), kennen wir manche Ereignisse bloß ihrem Namen nach – zum Beispiel das Gemetzel von Kolpino im Juni 1918 – was? warum? wer? wen? … Wohin das eintragen also?
Nicht minder schwer fällt auch diese Entscheidung: Wohin – in die Gefängnisströme oder in die Bilanz des Bürgerkrieges – gehören die Zehntausende von Geiseln, jene persönlich keiner Verbrechen angeklagten, namentlich nicht einmal mit Bleistift in Listen aufnotierten friedlichen Bürger, deren Vernichtung zur Abschreckung erfolgte und aus Rache an den militärischen Feinden oder den aufständischen Massen. Nach dem 30. August 1918 wies die NKWD die lokalen Stellen an, «sofort alle rechten Sozialrevolutionäre zu verhaften und von den Bourgeois und Offizieren eine ansehnliche Zahl von Geiseln zu nehmen». (Na, geradeso, als wenn nach dem Zarenattentat der Alexander-Uljanow-Gruppe nicht nur ihre Mitglieder allein verhaftet worden wären, sondern noch alle Studenten in Rußland und eine ansehnliche Zahl von Semstwo-Leuten dazu.) Mit Beschluß des Verteidigungsrates vom 15. Februar 1919 – offensichtlich unter Lenins Vorsitz? – wurde der Tscheka und der NKWD nahegelegt, als Geiseln Bauern jener Gegenden zu nehmen, wo die Freilegung der Eisenbahngeleise von Schneeverwehungen «nicht ganz zufriedenstellend vor sich geht», damit sie, «falls die Arbeiten nicht durchgeführt werden, erschossen werden können».
Allemal uns beschränkend, das heißt, nur die gewöhnlichen Verhaftungen im Auge behaltend, müssen wir doch vermerken, daß bereits mit Frühjahr 1918 der langjährige ununterbrochene Strom der verräterischen Sozialisten seinen Anfang nahm.
In vollem Umfang erkannt wurde auch schon 1919 die Verdächtigkeit der aus dem Ausland heimkehrenden Russen (wozu? in wessen Auftrag?) – aus diesem Grunde verhaftete man die aus Frankreich heimkehrenden Offiziere des russischen Expeditionskorps.
Ebenfalls im neunzehner Jahr wurden im weiten Umkreis um die echten und die Pseudoverschwörungen («Nationales Zentrum», Militärverschwörung) in Moskau, Petrograd und anderen Städten Erschießungen nach Listen durchgeführt (das heißt, es wurden freie Menschen gleich zur Erschießung ausgehoben).
Im Januar 1919 wurden die Verordnungen über die Lebensmittelaufbringung erlassen und für die Durchführung Spezialabteilungen – Prodotrjady – geschaffen. Im Dorf stießen sie allerorts auf Widerstand, hier auf beharrliches Ausweichen, dort auf stürmische Ablehnung. Die Beseitigung dieser Gegenwirkung ergab (die an Ort und Stelle Erschossenen nicht mit eingerechnet) einen ebenfalls beachtlichen Strom von Verhafteten: er kam zwei Jahre nicht zum Versiegen.
Vom Mai 1920 stammt der Beschluß des Zentralkomitees «über die Diversionstätigkeit im Hinterland». Aus Erfahrung wissen wir, daß jeder derartige Beschluß den Impuls für einen neuen allumfassenden Häftlingsstrom gibt.
Wir wissen (wissen nicht …), daß 1920 der Prozeß des Sibirischen Bauernbundes stattfand; Ende 1920 erfolgte auch die vorläufige Zerschlagung des Bauernaufstandes von Tambow. (Dort gab es kein Gerichtsverfahren.)
Doch der Hauptanteil des in den Tambower Dörfern requirierten Menschenmaterials entfällt auf den Juni 1921. Über das ganze Tambower Gouvernement waren Konzentrationslager für die Familien der aufständischen Bauern verstreut.
Noch zuvor, im März 1921, wurden, auf dem Umweg über die Trubezkoi-Bastionen der Peter-Paul-Festung, die Matrosen des aufständischen Kronstadt, abzüglich der Erschossenen, auf die Inseln des Archipels gebracht.
Im selben Jahr wurden die Verhaftungen der «Anderparteimitglieder» erweitert und ins rechte Lot gebracht. Im Grunde waren ja alle politischen Parteien Rußlands, die regierende ausgenommen, bereits erledigt.
Im Frühjahr 1922 entschied die eben in GPU umbenannte Sonderkommission für die Bekämpfung der Konterrevolution, daß es an der Zeit sei, sich um Kirchenbelange zu kümmern. Da stand nun auch die «kirchliche Revolution» auf der Tagesordnung: Die Leitung mußte abgesetzt und eine neue bestellt werden, welche ein Ohr nur dem Himmel böte, das zweite indessen zur Lubjanka hinhielte. Solches versprachen die Anhänger der Lebendigen Kirche, die aber ohne Hilfe von außen den Kirchenapparat nicht überwältigen konnten.
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