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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Kolonie gelaufen: Ein Kamerad sei schwer erkrankt. Alle Vorsicht vergessend, eilt sie ihnen in die große, vierzig Mann fassende Zelle nach. Und emsig, hurtig, ameisengleich machen sich die Frischlinge ans Werk. Zuerst die Türe verbarrikadieren, Wachen aufstellen davor, dann – der Schwester mit einem Dutzend Händen die Sachen vom Leibe reißen, sie zu Boden werfen – «Ihr haltet die Arme, ihr setzt euch auf die Beine!» –, und vorwärts nun, jeder, wie er kann: vergewaltigen, küssen, beißen. Und weil das Schießen ja verboten ist, wird niemand die Schwester befreien, solange die Bürschchen nicht selbst von ihr ablassen; geschändet und weinend schleppt sie sich fort.
    Das Interesse am weiblichen Körper wird ja bei den Jungen ohnehin früh geweckt und in den Frischlingszellen durch reich ausgeschmückte Erzählungen und Angeberei noch um einige Grade angeheizt. Diese Spannung loszuwerden, lassen sie sich keine Gelegenheit entgehen. Hier eine Episode: Am hellichten Tage und vor aller Augen sitzen vier Frischlingsjungen in der Zone von Kriwoschtschokowo und unterhalten sich mit dem Frischlingsmädchen Ljuba aus der Buchbinderei. Bei irgend etwas scheint sie ihnen scharf zu widersprechen. Daraufhin springen die Jungen auf und reißen sie im Schwung an den Beinen hoch. Wie soll sie sich nun wehren? Mit den Händen muß sie sich auf die Erde stützen, der Rock fällt ihr übers Gesicht. Die Jungen halten sie fest und fummeln mit den freien Händen an ihr herum. Dann lassen sie sie grob niederplumpsen. Haut sie ihnen eine runter? Läuft sie davon? Mitnichten, sie setzt sich wieder hin und fährt mit Streiten fort.
    Diese Frischlinge sind bereits sechzehn und wohnen in einer gemischten Erwachsenenzone. (Dort, wo es die Baracke für fünfhundert Frauen gibt, jene, in der der Geschlechtsakt ohne Vorhänge vollzogen wird und in der die Frischlinge gelassen, wie erwachsene Männer, einzukehren pflegen.)
    In den Kinderkolonien arbeiten die Minderjährigen vier Stunden am Tag, vier Stunden sollten dem Lernen gewidmet sein (doch die Schule ist pure Augenwischerei). Nach dem Übertritt ins Erwachsenenlager werden sie auf Zehnstundentag gesetzt, allerdings mit verminderten Arbeitsnormen, und in den Rationen den Erwachsenen gleichgestellt. Wenn sie ins Lager kommen, sind sie sechzehn, sehen aber wie kleine schmächtige Kinder aus; wegen der Unterernährung und der Fehlentwicklung im Lager und vorher stehen sie ihren freien Altersgenossen in allem nach: im Wuchs, im Verstand, auch in den Interessen.
    Im Vergleich zur Kinderkolonie haben sich die Bedingungen wesentlich geändert. Vorbei sind die Zeiten der Kinderrationen, die es gegen die Aufseher zu verteidigen galt, die Obrigkeit hört somit auf, der Erzfeind zu sein. Greise Invaliden treten auf den Plan, an denen man seine Stärke, Frauen, an denen man seine Manneskraft erproben kann. Auch mit wirklichen, lebendigen Dieben, grobschlächtigen SA-Schlägern, kommt man in Berührung; gern nehmen die sich der ideologischen Erziehung der Frischlinge an, richten sie fachmännisch fürs Gewerbe ab. Bei ihnen zu lernen, ist verlockend, sich dem Lehrgang zu entziehen unmöglich.
    Vielleicht hat das Wort «Dieb» für den freien Leser einen anrüchigen Klang? Vielleicht, doch dann hat er eben nichts verstanden! Die Unterwelt spricht das Wort gerad so ehrerbietig aus wie der Adel das Wort «Ritter», nein, ehrfurchtsvoller noch, mit halber Stimme nur: Es ist ein heilig Wort. Ein verdienstvoller Dieb irgendwann einmal zu werden, ist der Traum jedes Frischlings.
    Einmal, in der Peresylka von Iwanowo, übernachtete ich in einer Frischlingszelle. Neben mir auf der Pritsche lag ein magerer Junge, älter als fünfzehn, Slawa hieß er, wenn ich nicht irre. Ich hatte das Gefühl, daß er das ganze Ritual der Frischlinge irgendwie widerwillig befolgte, müde gleichsam, oder als wäre er dem Ganzen entwachsen. Ich dachte noch: Dieser Junge ist nicht verloren, ist gescheiter als die anderen und wird sich bald von ihnen trennen. Wir kamen ins Gespräch. Der Junge stammte aus Kiew, irgendeiner von den Eltern war gestorben, irgendeiner hatte ihn verstoßen. Zu stehlen begann er bereits vor dem Krieg, mit neun Jahren etwa, er stahl auch, «als unsere Leute kamen», auch nach dem Krieg, und erklärte mir mit einem für einen Fünfzehnjährigen viel zu früh nachdenklich-unfrohen Lächeln, daß er sich auch in Zukunft vom Stehlen zu ernähren gedenke. «Wissen Sie», setzte er mir sehr vernünftig

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