Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
auseinander, «ein Arbeiterberuf trägt einem außer Brot und Wasser nichts ein. Meine Kindheit war schlimm genug, nun möchte ich es mir mal gutgehen lassen.» – «Und was hast du unter den Deutschen getan?» fragte ich, um die zwei von ihm übergangenen Jahre auszufüllen, die zwei Jahre der deutschen Besetzung von Kiew. Er schüttelte den Kopf: «Unter den Deutschen habe ich gearbeitet. Meinen Sie, unter den Deutschen hätt man stehlen können? Die Deutschen schossen einen auf der Stelle nieder.»
Hier nach Berichten von Arnold Susi einige Sittenbilder vom 2. Kriwoschtschokowo-OLP des Nowosib-Lag (für Strafversetzte). Die Seki hausen in riesengroßen (fünfhundert Mann fassenden), halbdunklen anderthalb Meter tief in die Erde gegrabenen Unterständen. Die Obrigkeit kümmert sich nicht um das Leben in der Zone (die Zeit der Losungen und Propagandavorträge ist vorbei), Kriminelle und Frischlinge terrorisieren die Leute. Zur Arbeit wird man kaum geholt, die Ernährung ist entsprechend, dafür gibt es Freizeit im Überfluß.
Da wird gerade eine Kiste Brot – von Brigadeleuten bewacht – aus der Brotkammer getragen. Die der Kiste voranhüpfenden Frischlinge inszenieren eine kleine Rauferei, großes Gestoße, großes Geschubse – und die Kiste liegt umgekippt am Boden. Die Brigadeleute stürzen hin, um das Brot aufzuklauben. Von zwanzig Portionen bekommen sie nur mehr vierzehn zu fassen. Von den «raufenden» Frischlingen ist weit und breit nichts mehr zu sehen.
Die Kantine dieses Lagerpunkts ist eine Bretterbude, gänzlich ungeeignet für den sibirischen Winter. Balanda und Brot müssen – bei vielen Graden minus – etwa hundertfünfzig Meter weit bis zum Unterstand gebracht werden, ein gefährliches, schwieriges Unternehmen für die greisen Invaliden. Das Stück Brot wird tief unter den Lumpen versteckt, die frierenden Finger halten den Eßnapf umklammert. Plötzlich tauchen, behend wie kleine Teufel, zwei, drei Frischlinge vor ihm auf, werfen den Alten zu Boden, durchfilzen ihn sechshändig und sind, eh er zu sich kommt, über alle Berge. Das Brot haben sie mitgenommen, die Suppe ist verschüttet, der leere Napf rollt über den Boden, der Alte versucht mühsam, wieder auf die Beine zu kommen. (Die übrigen Seki sehen es und machen einen weiten Bogen um die Gefahrenstelle, beeilen sich, das eigene Essen heil durchzubringen.) Je schwächer das Opfer, desto erbarmungsloser die Frischlinge. Bei jenem schwachen Greis dort verzichten sie auf jegliche Tarnung, ganz offen reißen sie ihm das Brot aus den Händen. Der Alte weint und fleht um Gnade: «Ich verhungere sonst!» – «Mußt ja sowieso bald abkratzen, da kommt’s aufs selbe raus!» – Auch auf den leeren, kalten Vorraum der Küche, wo dauernd Leute durchgehn, dehnen die Frischlinge ihre Aktionen aus. Die Meute stößt das Opfer um, setzt sich ihm auf die Arme, die Beine, den Kopf, durchwühlt alle Taschen, nimmt Geld, Machorka und verschwindet.
Ein unvorsichtiger freier Gimpel braucht nur mal mit einem Hund in die Zone zu kommen und einen Augenblick wegzuschauen – das Fell seines Hundes kann er abends vor der Zone zurückkaufen: Der Hund ist im Handumdrehen weggelockt, erstochen, zerlegt und gebraten worden.
Den Frischlingen ins Gewissen zu reden ist müßig, die Menschensprache ward nicht für sie geschaffen, ihre Ohren lassen einfach nichts ins Gehirn rein, was ohne Nutzen für sie wäre. Die gereizten Invaliden wollen handgreiflich werden – die Frischlinge bewerfen sie mit schweren Gegenständen. Woran finden sie nicht alles Vergnügen! Da schnappen sie einem Alten das Hemd weg und werfen es sich übermütig zu: «Nun lauf mal, Alter, sei kein Spielverderber!» Er ist beleidigt, geht fort? Na, dem werden wir’s noch zeigen! Das Hemd wird verkauft, zu Machorka gemacht! (Nun pirschen sie sich auch noch mit Unschuldsmiene an ihn heran: «Gib was zum Rauchen, Alterchen? Laß gut sein, sei nicht böse. Hättest das Hemd ja fangen können!»)
Dieses wilde Treiben – inmitten des Lagergedränges – verdrießt und beleidigt die erwachsenen Männer, Väter und Großväter möglicherweise noch mehr als die Gewalttätigkeit und hungrige Gier der Frischlinge. Als schmerzlichste Erniedrigung empfinden die älteren Menschen diese Gleichsetzung mit den frechen Grünschnäbeln, ach, wenn man doch nur gleichgesetzt wäre! – nicht hilflos ausgeliefert ihrer Willkür.
So wurden kleine, ausgekochte Faschisten produziert: Stalin steuerte die Gesetze bei,
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