Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
Vom Netzwerk:
der GULAG die Erziehung, die Unterwelt den Gärstoff. Eine bessere Methode konnte gar nicht erfunden werden, um aus einem Kind ein Tier zu machen! Auch keine, die es schneller und sicherer zuwege gebracht hätte, alle Lagerlaster in die noch schwache, schmale Brust zu pumpen!
    Selbst dann, wenn es ganz leicht gewesen wäre, in der Seele des Kindes auch mal Gutes aufkeimen zu lassen, zeigten sich die Lagerherren unnachgiebig: Das gehörte einfach nicht zu den Aufgaben ihrer Erziehungsmethoden. Da saß ein Junge im Ersten Lagerpunkt von Kriwoschtschokowo und wollte in den Zweiten überstellt werden, weil sein Vater dort war. Sie erlaubten es nicht! (Denn die Instruktion verlangt die Verwandtentrennung.) Der Junge versteckte sich in einem Faß, wurde darin zum Zweiten Lagerpunkt gebracht und konnte nun eine Weile heimlich bei seinem Vater leben. Große Aufregung im 1. OLP, man wußte nicht, ob er ausgerissen oder in einer Abortgrube ertränkt worden war. Mit nägelbeschlagenen Stangen rührten sie die Jauche auf.
    Die Stalinschen Minderjährigengesetze blieben zwanzig Jahre in Kraft (bis zum Ukas vom 24. April 1954, der eine leichte Milderung brachte: Wer von den Frischlingen mehr als ein Drittel seiner Haftzeit abgesessen hatte, kam frei; allerdings betraf es die erste Frist ! Was aber, wenn einer vierzehn Strafen auf dem Buckel hatte?). Zwanzig Ernten wurden eingebracht. Zwanzig Jahrgänge auf den Weg des Verbrechens und Lasters gestoßen.
    Wer wagt es, das Andenken des Großen Lehrmeisters zu schmähen?

    Es gibt frühreife Kinderchen, die es fertigbringen, ganz jung an den § 58 zu geraten. Gelij Pawlow beispielsweise heimste ihn schon mit zwölf ein (saß von 1943 bis 1949 in der Kinderkolonie von Sakowsk). Der § 58 sah so was wie ein Mindestalter schlechtweg nicht vor! Daraus wurde selbst in volksbildnerischen juristischen Vorträgen kein Hehl gemacht (Tallinn, 1945). Doktor Usma kannte einen Sechsjährigen, der nach § 58 in der Kinderkolonie saß, offenbar war dies der absolute Rekord!
    Und wo anders sonst als in diesem Kapitel sollte man jene Kinder erwähnen, die durch die Verhaftung ihrer Eltern zu Waisen geworden waren?
    Geradezu glücklich zu nennen waren da noch die Kinder aus der religiösen Kommune bei Chosta. Als die Mütter 1929 auf die Solowki gebracht wurden, ließ man die Kinder gnädigst daheim. Sie versorgten selbständig die Höfe und Gärten, melkten die Ziegen, besuchten fleißig die Schule und schickten die Zeugnisse an die Eltern auf den Solowki; wie die Mütter seien sie bereit, schrieben sie dazu, für Gott und den Glauben zu leiden. (Wozu ihnen die Partei natürlich alsbald die Gelegenheit bot.)
    Jene Instruktion über die Verwandtentrennung – wie viele Frischlinge hat sie wohl schon in den zwanziger Jahren geschaffen? Und wer wird uns über ihr Schicksal berichten? …
    Selbst ein oberflächlicher Blick erfaßt diese Besonderheit: Die Kinder kommen ums Sitzen nicht herum, früher oder später setzen auch sie ihren Fuß auf den gelobten Archipel, manchmal dürfen sie auch gleich mit den Eltern dahin. Im November 1941 kamen die Blauen, um den Vater der fünfzehnjährigen Schülerin Nina Peregud zu verhaften. Hausdurchsuchung. Plötzlich erinnerte sich Nina, daß im Ofen ein zerknülltes, jedoch nicht verbranntes Papier lag, ein Spottlied, von ihr selbst gedichtet. Sie hätte es lieber im Ofen liegen lassen sollen, beschloß indessen, aufgeschreckt und schusselig, es sofort zu zerreißen, griff ins Ofenloch – und ward vom daneben schlummernden Milizmann geschnappt. Und hier, mit braver Schulschrift geschrieben, die furchtbare Ketzerei, die sich den Augen der Tschekisten bot:
    «Sterne hell vom Himmel blitzen,
    Licht auf alle Gräser fällt.
    In Smolensk die Fritzen sitzen,
    Nun auch Moskau sich nicht hält.»
    Es folgte der fromme Wunsch:
    «Soll die Schule doch verbrennen,
    Könnten morgens länger pennen.»
    Natürlich mußten die erwachsenen Männer, die im sicheren Tambower Hinterland die Heimat verteidigen, diese Ritter mit heißen Herzen und sauberen Händen, eine derart tödliche Gefahr im Keime ersticken. Nina wurde verhaftet. Konfisziert wurden ihre Tagebücher von der 6. Klasse an, außerdem eine konterrevolutionäre Fotografie: das Bild der zerstörten Barbara-Kirche. «Worüber hat der Vater gesprochen?» forschten die Ritter mit den heißen Herzen. Nina heulte nur. Sie bekam fünf Jahre Haft und drei Jahre Verlust der Bürgerrechte (sie sprachen ihr ab, was sie noch gar

Weitere Kostenlose Bücher