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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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moralischen Niedrigkeit, eins ging leicht ins andere über. Man weiß aus den Berichten erfahrener Seki, daß die Eigenbewacher brutal im Umgang mit ihren Brüdern waren, sie wollten sich empordienen, klammerten sich fest an den Hundedienst und verschmähten es nicht, mitunter eine alte Rechnung durch einen gut gezielten Schuß zu begleichen.
    Im übrigen finden wir es auch in der juristischen Fachliteratur vermerkt: «In vielen Fällen üben die Freiheitsbestraften ihre Pflichten hinsichtlich der Bewachung und der Aufrechterhaltung der Ordnung besser aus als die besoldeten Schließer.»
    Nein, sagen Sie doch, gibt es was Böses, das man einem Volk, einem Menschen, der Menschheit nicht beibringen könnte? …

21
Die Lagerumwelt
    Wie ein Stück faulendes Fleisch ja nicht nur an seiner Oberfläche stinkt, sondern auch noch von einer molekularen Gestankswolke umgeben ist, so schafft und nährt jede Insel des Archipels eine stinkige Zone um sich herum. Diese Zone, ausgedehnter als der eigentliche Archipel, ist eine Vermittlungs-, eine Übertragungszone zwischen der kleinen Zone der einzelnen Insel und der großen Zone des ganzen Landes.
    Alles, was pestig ansteckend ist am Archipel – an den menschlichen Beziehungen, den Sitten, den Ansichten und der Sprache –, sickert, dem allgemeingültigen Gesetz der Durchdringung pflanzlicher und tierischer Membranen folgend, zuerst in die Übertragungszone ein und greift erst von dort aufs Mutterland über. Eben hier, in der Mittlerzone, werden die Elemente der Lagerideologie und -kultur spontan gesiebt und geprüft und jene ausgewählt, die würdig sind, in die gesamtstaatliche Kultur einzugehen. Es soll Sie daher nicht irritieren, wenn durch die Gänge der neuen Moskauer Universität manch deftiges Lagerwort schallt, und Sie brauchen sich auch nicht zu wundern, wenn Sie eine großstädtische, souveräne Dame im besten Lagerstil über das Leben urteilen hören. Dies alles ist durch die Übertragungszone, durch die Lagerumwelt nach auswärts gedrungen.
    So rächt sich der Archipel an der Union für seine Erschaffung.
    So wird uns für jede Grausamkeit die Rechnung präsentiert.
    So teuer kommt es uns immer zu stehen, daß wir dem Billigeren nachjagen.

    All die Orte, Flecken und Siedlungen aufzuzählen, hieße fast, die Geographie des Archipels zu wiederholen. Keine Lagerzone kann auf sich allein gestellt existieren, sie braucht eine von Freien bewohnte Siedlung an ihrer Seite. Dort aber, wo ein Lager in den Körper einer großen Stadt, ja selbst Moskaus gepfropft worden ist, fehlt es ebensowenig an der Lagerumwelt …
    Wer sind sie nun, die Lageranrainer? 1. Die Stammbevölkerung (die auch fehlen kann); 2. Die WOchra – die militarisierte Bewachung; 3. Die Lageroffiziere mit ihren Familien; 4. Die Aufseher mit ihren Familien (im Unterschied zur Wachmannschaft lassen sich die Aufseher, auch wenn sie im militärischen Sold stehen, an jedem Ort häuslich nieder); 5. Die ehemaligen Seki (aus dem hiesigen oder einem benachbarten Lager entlassen); 6. Diverse Randschichten von Gemaßregelten, Leute mit «unsauberen» Pässen. 7. Die Produktionsmacher, lauter hochgestellte Persönlichkeiten, von denen es auch in einer großen Siedlung nur eine Handvoll gibt; 8. Die eigentlichen freien Gimpel, die Wolnjaschki, Kraut und Rüben aus aller Herren Länder, allerhand entwurzelte, verlorene Existenzen und sonstwelche Leute, die dem leicht verdienten Rubel nachjagen. Denn man darf in jenen fernen, gottverlassenen Gegenden um ein Dreifaches schlechter arbeiten als in der Metropole und dafür den vierfachen Lohn kassieren: einmal wegen des Klimas, dann wegen der Entfernung, wegen des Fehlens zivilisatorischer Bequemlichkeiten und schließlich, indem man sich die Leistungen der Häftlinge aufs eigene Konto schreibt. Außerdem haben sich viele ja schon zu Hause anwerben lassen, demnach Verträge ausgestellt und Umzugsgelder ausgezahlt bekommen. Für jene, die sich drauf verstehen, aus Produktionsaufträgen Gold herauszuwaschen, ist die Lagerumwelt das reinste Klondike. Leute mit gefälschten Diplomen lockt diese Welt herbei, und die Abenteurer, Hochstapler und Glücksritter, sie kommen in hellen Scharen. Daneben aber gibt es noch eine ganz andere Kategorie: die nicht mehr jungen, seit Jahrzehnten in Lagernähe lebenden und so sehr mit dem Lager verwachsenen Freien, daß sie ein anderes, ein genüßlicheres Leben gar nicht mehr brauchen. Wird ihr Lager geschlossen, weigert sich der Natschalnik,

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