Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
Vom Netzwerk:
mit Menschenleben, Menschenwesen umzuspringen; von daher rührt das Prahlen voreinander. Brüstete sich der Kommandant eines Lagerpunkts von Kengir: «Bei mir arbeitet ein Professor in der Banja!» Doch: «Bei mir macht ein Akademiemitglied Stubendienst, trägt den Pißkübel raus!» parierte Hauptmann Stadnikow von einem anderen Lagerpunkt geschickt den Schlag.
    Habgier, Gewinnsucht. Universaleigenschaften sind es, allen Lagermeistern eigen. Nicht jeder ist dumm, nicht jeder ist ein Despot, aber sich den Beutel zu füllen, wird jeder versuchen, egal, ob er an diesem Ort ein oberster oder nur ein Hilfs-Natschalnik ist. Nicht nur ich bin keinem begegnet, auch von meinen Freunden, gleichwie von den ehemaligen Seki, die mir heute schreiben, hat sich niemand an einen selbstlosen Lagermeister erinnern können, einen, der sich nicht auf Kosten der unbezahlten Sträflingsarbeit und auf Kosten des Staatseigentums bereichert hätte.
    Ihre Raffgier ist unersättlich, durch keine der zahllosen gesetzlichen Vorteile und Vergünstigungen zu befriedigen. Weder durch das hohe Gehalt (mit zweifachen, dreifachen Klima-, Trennungs-und Gefahrenzulagen). Noch durch die Prämien (wie vom § 79 des Besserungsarbeitsgesetzes von 1933 für leitende Lagerfunktionäre vorgesehen, jenes Gesetzes, das sie nicht gehindert hat, den Zwölfstundentag für die Häftlinge einzuführen und die Sonntage abzuschaffen). Noch durch die ungemein günstige Berechnung der abgeleisteten Dienstjahre (im Norden, wo die Hälfte der GULAG-Inseln liegt, wird ein Jahr für zwei gerechnet, und die «Militärs» brauchen ja ohnehin nur zwanzig Jahre bis zur Pension. Demnach kann ein mit 22 Jahren aus der MWD-Schule entlassener Offizier nach zehn Jahren die volle Pension beanspruchen und sich mit 32 in Sotschi zur Ruhe setzen!).
    Den Lagerherren genügt es nicht, sich selbst und ihre Familien mit Kleidern und Schuhen aus den Lagerwerkstätten zu versorgen. Es genügt ihnen nicht, Möbel und allerhand Hausgerät von dort geliefert zu bekommen. Es genügt ihnen nicht, ihre Schweine aus der Lagerküche zufüttern zu lassen. Zu wenig ist’s! Denn gerade dadurch unterscheiden sie sich ja von den früheren Gutsherren, daß sie ihre Macht nicht auf Lebenszeit bekommen haben, und sie nicht weitervererben können. Drum hatten es die Gutsbesitzer nicht nötig, sich selbst zu bestehlen, wohingegen der Lagerherren Gehirn alleweil nach Wegen sucht, sich etwas aus der eigenen Wirtschaft in die noch eigenere Tasche zu stecken.
    Geilheit. Die hat natürlich nicht jeder, das hängt mit der Physiologie zusammen, aber schon die Stellung eines Lager-Natschalniks und seine Machtvollkommenheit öffneten allen Haremsneigungen Tür und Tor. Grinberg, ein Lagerpunktkommandant in Burepolom, ließ sich unverzüglich jede neueingetroffene hübsche junge Frau vorführen. (Und sie, was hätte sie noch zu wählen gehabt, außer dem Tod?) Podlesnyj, der Lagerkommandant von Kotschemas, war ein Liebhaber nächtlicher Streifzüge durch die Frauenbaracken (wie wir ähnliche bereits in Chowrino beobachtet haben). Er riß den Frauen höchstpersönlich die Decken weg, angeblich, um darunter versteckte Männer zu suchen.
    Bosheit, Grausamkeit. Es gab weder reelle noch sittliche Zügel, die diese Eigenschaften im Zaum hielten. Die unbeschränkte Macht in den Händen von beschränkten Menschen gebiert immerzu Grausamkeit. (Und all diese Ähnlichkeiten mit den Lastern der Feudalherren führen wir nicht um der Rhetorik willen an. Diese Ähnlichkeiten zeigen leider, daß sich das Wesen unserer Landsleute in den zweihundert Jahren nicht im geringsten verändert hat: Gebt ihnen die gleiche Macht, und ihr bekommt die gleichen Laster!)
    Es genügt, sich bloß ihre Gesichter anzuschauen, sie tummeln sich ja auch heute noch unter uns, leicht kannst du ihnen im Zug begegnen (im bequemen Abteilwagen, versteht sich, für was Billigeres sind sie nicht zu haben), im Flugzeug neben einem sitzen. Auf ihren Gesichtern hat sich wetterfeste Grausamkeit abgelagert, und immer starren sie düster und mißmutig vor sich hin. Man möchte meinen, daß sich alles bestens gefügt hat in ihrem Leben, aber nein, sie tragen stets Unzufriedenheit zur Schau. Ob sie glauben, daß ihnen irgend etwas noch Besseres entgangen ist? Oder ob’s der Herrgott doch nicht unterläßt, jedem Lumpen die böse Tat ins Gesicht zu schreiben?
    1962 fuhr ich erstmals als Freier mit dem Zug durch Sibirien. Und traf im Abteil – das denkst du dir besser

Weitere Kostenlose Bücher